Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Strafanzeige
Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen Strafanzeige gegen Arbeitgeber
Die Erstattung einer Strafanzeige gegen einen Repräsentanten des Arbeitgebers ohne vorherigen Versuch einer innerbetrieblichen Klärung stellt regelmäßig keine Pflichtverletzung dar, wenn mit einer neutralen, unvoreingenommenen Aufarbeitung der Vorgänge innerhalb des Betriebs oder Unternehmens nicht zu rechnen ist, weil sich beispielsweise die Vorwürfe direkt gegen den Arbeitgeber oder seine Repräsentanten richten.
LAG Mecklenburg-Vorpommern, 15.08.2023, 5 Sa 172/22
Sachverhalt:
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung sowie zwei ordentliche Kündigungen und über die Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegen Zahlung einer Abfindung. Der Beklagte ist ein gemeinnütziger Verein, der sich um Kinder und Jugendliche mit besonderem Betreuungsbedarf kümmert. Die Klägerin war zweite Vorsitzende des Vereins. Seit 2018 ist die Klägerin außerdem als Koordinatorin der Hilfe für junge Erwachsene bei dem Beklagten beschäftigt. Die Klägerin entdeckte im Papierkorb des E-Mail-Postfachs mehr als 700 Bestellungen der ersten Vorsitzenden des Vereins bei Amazon seit dem Jahr 2012, die sie dem Vereinszweck nicht zuordnen konnte. Am 16.11.2021 erstattete die Klägerin bei der Polizei Strafanzeige gegen die erste Vorsitzende wegen zweckfremder Verwendung öffentlicher Mittel. Am 06.02.2022 fand beim Beklagten eine Mitgliederversammlung statt. Die Klägerin wurde nicht erneut in den Vorstand gewählt. Der neu gebildete Vorstand beschloss am 24.02.2022, die Klägerin aus dem Verein auszuschließen. Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis zunächst mit Schreiben vom 02.06.2022 ordentlich und betriebsbedingt zum 31.07.2022. Zur Begründung berief er sich auf den Wegfall des Betreuungsbereichs „junge Erwachsene“ laut Protokoll der Mitgliederversammlung vom 06.02.2022. Des Weiteren kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit sofortiger Wirkung und verwies zur Begründung der Kündigung u.a. auf die Erstattung der Strafanzeige durch die Klägerin, ohne zuvor eine innerbetriebliche Klärung versucht zu haben. Das ArbG hat den Kündigungsschutzanträgen stattgegeben und mit Ergänzungsurteil vom 20.01.2023 das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung von zwei Bruttogehältern zum 31.07.2022 aufgelöst. Beide Parteien haben Berufung eingelegt, die aber beide keinen Erfolg haben.
Entscheidungsanalyse:
Die außerordentliche Kündigung vom 02.06.2022 ist ebenso unwirksam wie die ordentliche betriebsbedingte Kündigung. Die Einschaltung der Staatsanwaltschaft durch einen Arbeitnehmer wegen eines vermeintlich strafbaren Verhaltens des Arbeitgebers oder seiner Repräsentanten stellt als Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte – soweit nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden – im Regelfall keine eine Kündigung rechtfertigende Pflichtverletzung dar (BAG, Urteil vom 15.12.2016 – 2 AZR 42/16). Dies kann anders zu beurteilen sein, wenn trotz richtiger Darstellung des angezeigten objektiven Sachverhalts für das Vorliegen der nach dem Straftatbestand erforderlichen Absicht keine Anhaltspunkte bestehen und die Strafanzeige sich deshalb als leichtfertig und unangemessen erweist. Eine vorherige innerbetriebliche Meldung und Klärung ist dem Arbeitnehmer allerdings unzumutbar, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde. Entsprechendes gilt auch bei schwerwiegenden Straftaten oder vom Arbeitgeber selbst begangenen Straftaten. Hier muss regelmäßig die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers zurücktreten. Weiter trifft den anzeigenden Arbeitnehmer auch keine Pflicht zur innerbetrieblichen Klärung, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist. Den Arbeitnehmer in einer solchen Konstellation auf die innerbetriebliche Abhilfe zu verweisen, wäre unverhältnismäßig und würde unzulässigerweise in seine Freiheitsrechte eingreifen (BAG, Urteil vom 03.07.2003, 2 AZR 235/02). Die Klägerin hat mit ihrer Strafanzeige vom 16.11.2021 weder bewusst noch leichtfertig unwahre Tatsachen behauptet. Eine innerbetriebliche Klärung der Vorwürfe war von vornherein aussichtslos. Die Vorwürfe richteten sich direkt gegen die erste Vorsitzende des Beklagten. Auch die ordentliche betriebsbedingte Kündigung vom 02.06.2022 ist unwirksam, da sie sozial ungerechtfertigt ist. Der Beklagte konnte nicht darlegen und beweisen, dass die von der Klägerin bis zum Ausspruch der Kündigung ausgeübten und auszuübenden Tätigkeiten tatsächlich entfallen sind. Das ArbG hat das Arbeitsverhältnis der Parteien aber auch zu Recht mit Ablauf der Kündigungsfrist zum 31.07.2022 aufgelöst. Eine gedeihliche Zusammenarbeit zwischen der Klägerin und der ersten Vorsitzenden ist nicht mehr zu erwarten, denn das Verhältnis zwischen den Parteien ist geprägt durch eine persönliche Feindschaft und persönlichen Machtkampf, die Unternehmensinteressen stehen nicht mehr im Vordergrund.
Praxishinweis:
Als Auflösungsgründe kommen Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, eine Wertung seiner Persönlichkeit, Leistung oder Eignung für die ihm übertragenen Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen, müssen nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die Besorgnis rechtfertigt, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit sei gefährdet (BAG, Urteil vom 16.12.2021 – 2 AZR 356/21).
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