Keine Arbeitszeitkontrolle durch Videoüberwachung
Verpflichtet sich der Arbeitgeber in einer Betriebsvereinbarung, eine personenbezogene Auswertung von Daten, die er durch den Einsatz von Kartenlesegeräten gewonnen hat, nicht vorzunehmen, kann sich auch der einzelne Arbeitnehmer darauf berufen. Zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten ist eine Videoüberwachungsanlage an den Eingangstoren eines Betriebsgeländes in der Regel weder geeignet noch erforderlich. Der – erstmalige – Zugriff auf Videoaufzeichnungen, die mehr als ein Jahr zurückliegen, ist zum Zwecke der Aufdeckung eines behaupteten Arbeitszeitbetruges regelmäßig nicht angemessen. Solche Daten unterliegen im Kündigungsschutzprozess einem Beweisverwertungsverbot.
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LAG Niedersachsen, 06.07.2022, 8 Sa 1148/20
Sachverhalt:
Die Parteien streiten über eine außerordentliche, hilfsweise ordentliche verhaltensbedingte Kündigung. Im Betrieb der Beklagten erfassen die Beschäftigten ihre Arbeitszeit am Werkstor durch eine Kartenlesegerät. In einer Betriebsvereinbarung hat die Beklagte sich verpflichtet, eine personenbezogene Auswertung von Daten, die er durch den Einsatz der Kartenlesegeräte gewonnen hat, nicht vorzunehmen. Auf dem Werkgelände findet darüber hinaus eine Videoüberwachung statt. Im Juni 2019 erhielt die Beklagte über ein internes Hinweisgebersystem den anonymen Hinweis, dass mehrere Mitarbeiter aus dem Bereich der Gießerei, darunter der Kläger, regelmäßig Arbeitszeitbetrug begingen. Es wurden mehrere Unregelmäßigkeiten bei der Arbeitszeiterfassung des Klägers festgestellt, u.a. soll er am 02.06.2018 das Werksgelände um 20:58 Uhr verlassen haben, obwohl er an diesem Tag zur Nachtschicht von 21:30 Uhr bis um 05:30 Uhr eingeteilt gewesen ist. Diesbezüglich beruft sich die Beklagten auf Daten aus der elektronischen Zeiterfassung und aus der Analyse der Videoaufzeichnungen. Mit Schreiben vom 05.10.2019 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien außerordentlich fristlos, mit weiterem Schreiben vom 09.10.2019 vorsorglich ordentlich fristgemäß zum 31.12.2019. Der Kläger hat Kündigungsschutzklage erhoben. Das ArbG hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben. Die Berufung der Beklagten hat keinen Erfolg.
Entscheidungsanalyse:
Die Kündigungen haben das Arbeitsverhältnis nicht beendet. Die behaupteten Pflichtwidrigkeiten des Klägers sind nicht erwiesen. Spiegelt ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber wider besseres Wissen vor, die vertraglich geschuldete Arbeitsleistung erbracht zu haben, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall war, so ist dieses Verhalten an sich geeignet, einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung i.S.v. § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Dies gilt etwa für den vorsätzlichen Missbrauch einer Stempeluhr oder für das wissentliche und vorsätzlich falsche Ausstellen entsprechender Formulare (BAG, Urteil vom 13.12.2018, 2 AZR 370/18). Der Vorwurf der Beklagten, der Kläger habe die Beklagte willentlich und wissentlich über die Erbringung der Mehrarbeitsschicht in der Nacht vom 02.06.2018 zum 03.06.2018 getäuscht, die er tatsächlich vollständig nicht erbracht habe, indem er das Betriebsgelände noch vor Schichtbeginn wieder verlassen habe, ist daher an sich geeignet, einen wichtigen Grund zum Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung darzustellen. Die Beklagte konnte die Pflichtwidrigkeiten allerdings nicht beweisen. Der Beklagten ist es verwehrt, Daten, die sie mit Hilfe der elektronischen Anwesenheitserfassung durch Betrieb von Kartenlesern gewonnen hat, in das Verfahren einzuführen. Diese Auswertung ist der Beklagte durch die im Betrieb geltende Betriebsvereinbarung verwehrt. Die Betriebsvereinbarung enthält eine klare Regelung, dass keine personenbezogene Auswertung von Daten erfolgt. Die Videoaufzeichnungen sowie die angebotene Aussagen von Zeugen, die diese Aufzeichnungen angesehen und ausgewertet haben, sind ebenfalls nicht verwertbar. Es greift ein Beweisverwertungsverbot. Die Heranziehung, Betrachtung und Auswertung der Videoaufzeichnungen der an den Toreingängen zum Betriebsgelände der Beklagten installierten Kameras zum Zwecke der Prüfung, wann der Kläger das Betriebsgelände betreten und verlassen hat, stellt eine Verarbeitung personenbezogener Daten von Beschäftigten i.S.d. § 26 Abs. 1 BDSG dar. Sie ist vorliegend weder für die Durchführung noch für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses noch für die Aufdeckung einer Straftat erforderlich. Das Mittel der Videoüberwachung ist schließlich vorliegend zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten und zur Aufdeckung einer damit im Zusammenhang stehenden Straftat auch nicht angemessen. Sowohl die sachliche als auch die zeitliche Intensität des Eingriffs sind erheblich und stehen vorliegend außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe.
Praxishinweis:
Die Beklagte muss sich hier an die Regelungen in der Betriebsvereinbarung halten. Dies gilt selbst für den Fall, dass, wie die Beklagte behauptet, das örtlich und sachlich zuständige Betriebsratsgremium der Verwertung der durch die Kartenlesegeräte gewonnenen Erkenntnisse über die Bewegungen des Klägers nachträglich zugestimmt haben sollte. Eine rückwirkende Beseitigung der dem Kläger durch die Betriebsvereinbarung eingeräumten Rechte ist nicht möglich, da der Kläger insoweit Vertrauensschutz genießt. Mindestens hat die Beklagte den Kläger durch den Abschluss der Betriebsvereinbarung „in Sicherheit gewiegt“, so dass eine „berechtigte Privatheitserwartung“ des Klägers bestand und daraus folgend im vorliegenden Verfahren ein Verbot der Verwertung der durch die Kartenlesegeräte gewonnenen Daten besteht.
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