Voraussetzungen einer Vertrauenshaftung des Krankenversicherers
Voraussetzungen einer Vertrauenshaftung des Krankenversicherers
In der privaten Krankenversicherung kann der Versicherer in Ausnahmefällen nach Treu und Glauben zum Ersatz von Behandlungskosten verpflichtet sein, obwohl sich diese als medizinisch nicht notwendig erweisen (Vertrauenshaftung). Dabei sind unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters strenge Anforderungen hinsichtlich des Umstandsmoments bzw. bei der Würdigung der Interessenlage zu stellen. Im Ausgangspunkt ist eine vorbehaltlose Kostenerstattung über einen längeren Zeitraum grundsätzlich geeignet, beim Versicherungsnehmer das berechtigte Vertrauen darauf zu wecken, dass auch in Zukunft eine Erstattung weiter erfolgen werde.
Originalentscheidung auf Wolters Kluwer Online aufrufen:
OLG Karlsruhe, 02.02.2023, 12 U 194/22
Sachverhalt:
Die Klägerin verlangt von der Beklagten aufgrund des zwischen ihnen bestehenden Kranken- und Pflegeversicherungsvertrages die Erstattung von Heilbehandlungskosten. Die Klägerin erlitt im Jahr 2009 einen Infarkt der linken Koronararterie (LMCA). Ab dem Jahr 2013 bis zum Oktober 2015 befand sie sich in Behandlung bei dem Streitverkündeten, dem Facharzt für Allgemeinmedizin, Naturheilverfahren und Umweltmedizin Dr. W. in P. Dr. W. führte bei der Klägerin u.a. eine Photonentherapie und eine hyperbare Ozontherapie durch. Die Beklagte bezahlte die Heilbehandlungskosten für die Behandlungen der Klägerin bei Dr. W. in den Jahren 2013 und 2014, nahm aber jeweils geringe Abzüge vor. Mit Schreiben vom 23.03.2015 kündigte die Beklagte gegenüber der Klägerin eine Prüfung des Leistungsanspruchs an. Für die im Zeitraum Februar 2015 bis Juli 2015 erbrachten Leistungen stellte Dr. W. der Klägerin insgesamt 9.542,95 Euro in Rechnung. Die Beklagte erstattete hiervon 1.679,30 Euro; wegen der übrigen Rechnungspositionen lehnte sie die Kostenerstattung mit Schreiben vom 28.10.2015 und auf erneute Aufforderung durch die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit weiterem Schreiben vom 19.06.2017 ab. Das LG hat die Beklagte verurteilt, an die Klägerin 4.234,78 Euro nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 20.06.2017 zu zahlen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Das LG begründet dies damit, dass nur Kosten im Umfang von 322,77 Euro auf medizinisch notwendige Behandlungen im Sinne der Versicherungsbedingungen zurückgingen und deshalb von der Beklagten zu übernehmen seien. Weitere 4.013,77 Euro habe die Beklagte aber nach Treu und Glauben gemäß § 242 BGB zu erstatten. Mit ihrer Berufung wendet sich die Beklagte gegen ihre Verurteilung auf Grundlage einer Vertrauenshaftung.
Entscheidungsanalyse:
Der 12. Zivilsenat des OLG Karlsruhe hat geurteilt, dass die beklagte Versicherungsgesellschaft nach Treu und Glauben zum Ersatz der bis zum 23.03.2015 angefallenen Behandlungskosten verpflichtet ist. Nach Auffassung des Senats darf der Versicherer bei einem Kranken- und Pflegeversicherungsvertrag zwar die Frage der Leistungspflicht für jede medizinische Behandlung dem Grunde und der Höhe nach neu prüfen, und zwar auch dann, wenn sich der Krankheitszustand des Versicherungsnehmers dem Anschein nach wiederholt. Eine frühere Kostenerstattung für gleichartige Behandlungen habe grundsätzlich keine Bindungswirkung im Hinblick auf die medizinische Notwendigkeit. Nach Auffassung des Senats ist jedoch eine anspruchsbegründende Wirkung des § 242 BGB nicht ausgeschlossen. Dabei seien allerdings unter Berücksichtigung des Ausnahmecharakters strenge Anforderungen hinsichtlich des Umstandsmoments bzw. bei der Würdigung der Interessenlage zu stellen. Das OLG erläutert, dass eine vorbehaltlose Kostenerstattung über einen längeren Zeitraum grundsätzlich geeignet ist, beim Versicherungsnehmer das berechtigte Vertrauen darauf zu wecken, dass auch in Zukunft eine Erstattung weiter erfolgen werde. Ein auf § 242 BGB gestützter Anspruch aus Vertrauensschutzgesichtspunkten besteht nach Ansicht des Senats nur unter besonderen Voraussetzungen. Hierzu sei stets eine konkrete Prüfung im Einzelfall erforderlich. Nach Überzeugung des Senats ist es daher im konkreten Fall unter Abwägung aller Umstände gerechtfertigt, der Beklagten die Verpflichtung zur Erstattung der bis zum 23.03.2015 angefallenen Kosten aufzuerlegen. Denn sie habe mit ihrem Erstattungsverhalten über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren (2013 und 2014) und in erheblichem Umfang ein schutzwürdiges Vertrauen bei der Klägerin hervorgerufen. Nach Auffassung des OLG bestand auch kein äußerer Anlass für die Überprüfung oder Änderung des Abrechnungsverhaltens im Frühjahr 2015. Die Vornahme von Abzügen bei der Erstattung der Rechnungen ließ außerdem aus Sicht des Senats aus der Perspektive der Klägerin erkennen, dass die Beklagte die Frage der medizinischen Notwendigkeit nicht etwa übersehen oder aus wirtschaftlichen Erwägungen auf die Überprüfung verzichtet, sondern die Rechnungen geprüft und im Umfang der Erstattung gebilligt hatte. Die Erstattungspflicht in dem vom LG ausgesprochenen Umfang sei für die Beklagte auch keine unbillige Härte. Nach Ansicht des Senats ist es daher in einer Gesamtabwägung aller Umstände gerechtfertigt, der beklagten Versicherungsgesellschaft wegen der bis zum 23.03.2015 angefallenen Rechnungen die Berufung auf die fehlende medizinische Notwendigkeit nach § 242 BGB zu versagen und ihr die Erstattung der Behandlungskosten aufzuerlegen.
Praxishinweis:
Hinsichtlich der Vertrauenshaftung eines privaten Krankenversicherers kann nach Auffassung des OLG Karlsruhe bei der gebotenen Interessenabwägung die Frage zu berücksichtigen sein, wie sehr das Vertrauen des Versicherungsnehmers auf die Kostenerstattung seine Entscheidung zugunsten der durchgeführten Behandlung beeinflusst hat. Aus Sicht des OLG kommt es für die Schutzwürdigkeit des Vertrauens auch darauf an, ob Krankheit und Behandlung im Wesentlichen gleich blieben.
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