Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG
Die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG
Eine Betriebsvereinbarung unterfällt der Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG, wenn sie die Zahlung einer stundenbezogenen und betragsmäßig bezifferten (Spätschicht-) Zulage unter denselben Tatbestandsvoraussetzungen vorsieht, unter denen nach dem einschlägigen Tarifvertrag ein prozentualer Zuschlag je Arbeitsstunde zu zahlen ist. Die Unzulässigkeit nach § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG erstreckt sich auf Regelungen einer Betriebsvereinbarung, die im Verhältnis zu denen des Tarifvertrages inhaltsgleich oder günstiger sind.
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LAG Baden-Württemberg, 27.07.2022, 19 Sa 6/22
Sachverhalt:
Die Parteien streiten über eine Zulage aufgrund einer Betriebsvereinbarung. Es geht um eine Spätschichtzulage, auf die der Kläger meint auf Grundlage einer Betriebsvereinbarung einen Anspruch zu haben. Allerdings ist im Manteltarifvertrag für Beschäftigte in der Metall- und Elektroindustrie in Nordwürttemberg/Nordbaden (MTV) in § 9.5 und 10.2 eine zusätzliche Vergütung von Spätarbeit als Arbeitsbedingung geregelt. Der fachliche Geltungsbereich des MTV hat sich schon bei Abschluss der Betriebsvereinbarung im Jahre 2017 auf den Betrieb erstreckt. Der Kläger ist allerdings der Auffassung, dass die §§ 9.5, 10.2 MTV die Zahlung von Zuschlägen nicht abschließend regeln und § 77 Abs. 3 BetrVG der Regelung eines Anspruchs auf eine weitere Zulage von 1,02 € brutto pro Stunde zusätzlich zu einem Spätarbeitszuschlag von 20 % für jede Arbeitsstunde zwischen 12:00 Uhr und 19:00 Uhr nicht entgegensteht, so dass die Betriebsvereinbarung 01/2017 wegen einer Tarifsperre nicht unwirksam sei. Das ArbG hat die Klage auf weitere Zuschläge nach der Betriebsvereinbarung abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat ebenfalls keinen Erfolg.
Entscheidungsanalyse:
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zahlung von Zuschlägen nach der Betriebsvereinbarung. Die entsprechende Regelung in der Betriebsvereinbarung verstößt gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, weil die zusätzliche Vergütung von Spätarbeit als Arbeitsbedingung im Sinne des Gesetzes bereits durch § 9.5 in Verbindung mit § 10.2 des MTV in der bis 31.12.2021 geltenden Fassung geregelt ist. Die Sperrwirkung des § 77 Abs. 3 BetrVG hängt nicht von der Tarifgebundenheit des Arbeitgebers ab, denn sie dient dem Zweck einer funktionsfähigen Tarifautonomie. Dazu wird den Tarifvertragsparteien der Vorrang bei der Regelung von Arbeitsbedingungen eingeräumt. Zum Schutz der ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie ist jede Normsetzung durch die Betriebsparteien ausgeschlossen, die inhaltlich zu derjenigen der Tarifvertragsparteien in Konkurrenz treten würde. Arbeitgeber und Betriebsrat sollen weder abweichende noch konkurrierende Betriebsvereinbarungen mit normativer Wirkung schließen können. § 9.5 in Verbindung mit § 10.2 MTV regelt dieselben Arbeitsbedingungen wie Ziffer 3 der Betriebsvereinbarung. Hier haben beide Instanzen festgestellt, dass die Tatbestandsvoraussetzungen für die Zahlung von Zuschlägen nach dem MTV und für die Zahlung von Zuschlägen und Zulagen nach der Betriebsvereinbarung identisch sind. Der MTV definiert, unter welchen kumulativen Voraussetzungen eine zuschlagspflichtige Spätarbeit vorliegt. Dieselben Tatbestandsvoraussetzungen liegen Ziffer 3 der Betriebsvereinbarung für die Zahlung des Spätarbeitszuschlages und für die Zahlung der Spätschichtzulage zugrunde. Die prozentuale oder betragsmäßige Erhöhung der Stundenvergütung dient der Kompensation der Arbeitsleistung bei ungünstig gelegenen Arbeitszeiten. Nachdem übereinstimmenden Verständnis der Parteien bezieht sich der (vermeintliche) Anspruch auf Zahlung einer Zulage nach § 3 Abs. 2 der Betriebsvereinbarung auch auf die Arbeitsstunde als Maßeinheit. Es spielt keine Rolle, dass die Betriebsparteien in Ziffer 3 der Betriebsvereinbarung den den Regelungen des MTV nicht zu entnehmenden Begriff der Zulage verwenden und als Regelungsinstrument statt einer prozentualen Anknüpfung an den Stundensatz einen Fixbetrag beziffern. Denn der Tarifvertrag enthält keine Lücke oder ergänzungsbedürftige Rahmenregelungen, sondern eine in sich abgeschlossene Regelung. Der MTV lässt eine Regelung in einer Betriebsvereinbarung auch nicht entsprechend § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG ausdrücklich zu. Der Tarifvertrag enthält keine Öffnungsklausel.
Praxishinweis:
§ 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG dient der Sicherung der ausgeübten und aktualisierten Tarifautonomie sowie der Erhaltung und Stärkung der Funktionsfähigkeit der Koalitionen (BAG, Urteil vom 18.03.2020, 5 AZR 36/19). Die durch Artikel 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie soll nicht durch Betriebsvereinbarung gefährdet werden. Die Betriebsvereinbarung soll weder als normative Ersatzregelung für nichtorganisierte Arbeitnehmer noch als eine zusätzliche normative Regelung für übertarifliche Leistungen herangezogen werden können. Die Vorschriften verhindern, dass Gegenstände, derer sich die Tarifvertragsparteien angenommen haben, konkurrierend – und sei es inhaltsgleich – durch Betriebsvereinbarung geregelt werden.
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