Berücksichtigung eines Privatgutachtens bei der Feststellung der Berufsfähigkeit
Berücksichtigung eines Privatgutachtens bei der Feststellung der Berufsfähigkeit
Einwände, die sich aus einem Privatgutachten gegen das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen ergeben, muss das Gericht ernst nehmen, ihnen nachgehen und den Sachverhalt weiter aufklären. Dazu kann es den Sachverständigen zu einer schriftlichen Ergänzung seines Gutachtens veranlassen. Wenn der gerichtlich bestellte Sachverständige weder durch schriftliche Ergänzung seines Gutachtens noch im Rahmen seiner Anhörung die sich aus dem Privatgutachten ergebenden Einwendungen auszuräumen vermag, muss der Tatrichter im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung gemäß § 412 ZPO ein weiteres Gutachten einholen.
Originalentscheidung auf Wolters Kluwer Online aufrufen:
BGH, 26.02.2020, IV ZR 220/19
Sachverhalt:
Der Kläger macht Leistungsansprüche aus einer bei der Beklagten seit 2009 bestehenden Berufsunfähigkeitsversicherung geltend. Der Kläger war selbständiger Marktleiter zweier Supermarktfilialen. Im Oktober 2010 stellte er einen Leistungsantrag wegen Berufsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen. Nachdem die Beklagte ihre Leistungspflicht zunächst anerkannt hatte, leitete sie ab 2012 mehrere Nachprüfungsverfahren ein und stellte schließlich aufgrund eines im April 2014 erstatteten psychiatrischen Gutachtens des von ihr beauftragten Sachverständigen Dr. S. mit Schreiben vom 12.08.2014 ihre Leistungen zum 30.11.2014 ein, da der Kläger nicht mehr berufsunfähig sei. Der Kläger hat die weitere Zahlung der vereinbarten Berufsunfähigkeitsrente zuzüglich Überschussbeteiligung (diesbezüglich hat er zusätzlich einen Auskunftsantrag gestellt) sowie die Beitragsbefreiung für die Zeit ab Januar 2015 – zum Teil im Wege der Feststellung, zum Teil durch Erstattung gezahlter Beiträge – und die Erstattung vorgerichtlicher Anwaltskosten begehrt. Er hat sich hierzu auf ein von ihm in Auftrag gegebenes fachpsychiatrisches Gutachten der Frau Dr. H. vom 02.02.2015 berufen, die ihm darin eine weiter bestehende Berufsunfähigkeit von mindestens 50% attestiert hat. Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Gutachtens des Sachverständigen Dr. Se. abgewiesen; das Oberlandesgericht hat ihr nach persönlicher Anhörung des Klägers und ergänzender Vernehmung des gerichtlichen Sachverständigen in vollem Umfang stattgegeben. Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde.
Entscheidungsanalyse:
Der 4. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die angefochtene Entscheidung den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG verletzt. Zur Begründung weist der Senat darauf hin, dass das Berufungsgericht den Beweisantrag der Beklagten auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dem von ihr behaupteten Wegfall der Berufsunfähigkeit nur unvollkommen entsprochen und die Ausführungen in dem von der Beklagten eingeholten Privatgutachten nicht berücksichtigt hat. Wenn eine Partei ein medizinisches Gutachten vorlegt, das im Gegensatz zu den Erkenntnissen des gerichtlich bestellten Sachverständigen steht, so ist vom Tatrichter nach Auffassung des BGH besondere Sorgfalt gefordert. Er dürfe in diesem Fall – wie auch im Fall sich widersprechender Gutachten zweier gerichtlich bestellter Sachverständiger – den Streit der Sachverständigen nicht dadurch entscheiden, dass er ohne einleuchtende und logisch nachvollziehbare Begründung einem von ihnen den Vorzug gebe. Einwände, die sich aus einem Privatgutachten gegen das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen ergeben, müsse das Gericht ernst nehmen, ihnen nachgehen und den Sachverhalt weiter aufklären. Dazu könne es den Sachverständigen zu einer schriftlichen Ergänzung seines Gutachtens veranlassen. Wenn der gerichtlich bestellte Sachverständige weder durch schriftliche Ergänzung seines Gutachtens noch im Rahmen seiner Anhörung die sich aus dem Privatgutachten ergebenden Einwendungen ausräumen kann, so muss der Tatrichter nach Worten des Senats im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung gemäß § 412 ZPO ein weiteres Gutachten einholen. Nach Auffassung des Senats hat das Berufungsgericht hier diese Anforderungen nicht ausreichend beachtet. Aus Sicht des BGH hätte das Berufungsgericht seiner Entscheidung nicht allein das Privatgutachten der Frau Dr. H. sowie die Angaben des Klägers ohne weitere sachverständige Überprüfung zugrunde legen dürfen, sondern hätte ein weiteres Gutachten einholen müssen. Der BGH hat im Ergebnis das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Praxishinweis:
Nach Auffassung des BGH handelt es sich hier beim vom Versicherten vorgelegten Privatgutachten unbeschadet der Verpflichtung des Gerichts, ein solches Gutachten ernst zu nehmen und ebenfalls kritisch zu würdigen, nicht um ein Beweismittel. Ein Privatgutachten ist vielmehr nach Ansicht des BGH als besonders substantiierter Parteivortrag einzuordnen, der seinerseits Gegenstand einer Beweisaufnahme sein kann (vgl. BGH, Beschluss vom 13.11.2013 – IV ZR 224/13). Der BGH stellt außerdem klar, dass beweispflichtig für den Wegfall der Berufsunfähigkeit hier der Versicherer ist.
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