Maßgebliche Zeitraum für die Erstbemessung der Invalidität
Der Maßgebliche Zeitraum für die Erstbemessung der Invalidität
Eine Neubemessung der Invalidität kommt erst nach vorangegangener Erstbemessung in Betracht. Maßgeblich für die Erstbemessung ist der Zeitpunkt des Ablaufs der vereinbarten Invaliditätsfrist. Auf die Drei-Jahres-Frist für die Neubemessung kommt es nur ausnahmsweise an, wenn der Versicherungsnehmer noch vor Ablauf dieser Frist klageweise Invaliditätsansprüche geltend macht.
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OLG Dresden, 05.08.2020, 4 U 322/20
Sachverhalt:
Die Klägerin schloss für ihren im Novemer 1995 geborenen Sohn (Versicherter) mit der Beklagten zwei Unfallversicherungsverträge ab, in denen die Zahlung einer Unfallrente bei einem Invaliditätsgrad ab 50 % in Höhe von 615,00 Euro und 250,00 Euro jeweils monatlich vereinbart worden war. Den Versicherungen liegen die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (FA-AUB 2008) der Beklagten zugrunde. Am 03.06.2014 stürzte der Versicherte mit dem rechten Oberarm auf einen Blumentopf, der zersplitterte. Der Versicherte zog sich dabei tiefe Schnittverletzungen am Oberarm zu, die noch am Unfalltag operativ versorgt wurden. Hierbei wurde eine Verletzung des Nervus ulnaris, des Nervus medianus, der Arteria brachialis des Oberarmes sowie von Teilen der M. biceps und M. triceps diagnostiziert. Am 15.01.2015 konnte eine motorisch komplette Parese des Nervus ulnaris und des Nervus medianus, Atrophie und Hypästhesien festgestellt werden. Mit der am 06.02.2018 erhobenen Klage begehrt die Klägerin Zahlung einer monatlichen Invaliditätsrente in Höhe von 865,00 Euro für die Vergangenheit und Zukunft. Sie hat behauptet, es liege eine Invalidität von 55 % vor. Das LG hat die Klage mit Urteil vom 30.01.2020 abgewiesen. Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin.
Entscheidungsanalyse:
Der 4. Zivilsenat des OLG Dresden hat entschieden, dass das LG die Klage zu Recht abgewiesen hat, da eine Invalidität von 50 % nicht festgestellt werden kann. Es fehle an einer dauerhaften Beeinträchtigung. Nach Auffassung des Senats ist zwischen Erstbemessung der Invalidität (§ 180 VVG) und ihrer Neubemessung (§ 188 VVG) zu unterscheiden. Eine Neubemessung der Invalidität kommt nach Worten des Senats erst nach vorangegangener Erstbemessung in Betracht. Entscheidend für die Erstbemessung sei der Zeitpunkt des Ablaufs der vereinbarten Invaliditätsfrist – hier ein Jahr. Auf die Drei-Jahres-Frist kommt es aus Sicht des OLG nur ausnahmsweise an, wenn der Versicherungsnehmer noch vor Ablauf dieser Neubemessungsfrist klageweise Invaliditätsansprüche geltend macht. Diese Voraussetzungen lägen hier nicht vor. Der Senat erläutert, dass die Frist für die Neufestsetzung in Ziffer 9.4 der AUB 2008 drei Jahre beträgt und am 03.06.2017 abgelaufen wäre. Die Klage sei jedoch erst am 08.02.2018 – und damit nach Fristablauf – erhoben worden. Der Senat weist außerdem darauf hin, dass die Klägerin zwar die Ansprüche binnen Jahresfrist angemeldet hat, es aber an einer an einer dauerhaften Beeinträchtigung im Sinne von 2.1.1.1 AUB 2008 fehlt. Der Senat betont, dass bei der Beurteilung der Dauerhaftigkeit auf den drei Jahre nach dem Unfall vorliegenden und zu diesem Zeitpunkt erkennbaren, d.h. hinreichend prognostizierbaren, Dauerzustand abzustellen ist. Im konkreten Fall sei bereits zu dem Stichtag 03.06.2015 die Prognose gerechtfertigt gewesen, dass sich der Armwert wegen eines positiven Heilungsverlaufs auf 10/20 verbessern werde. Das OLG ist daher zu dem Ergebnis gelangt, dass die Berufung der Klägerin offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat.
Praxishinweis:
Wenn das Neufestsetzungsverfahren mangels Erstfestsetzung nicht eröffnet ist, ist nach Auffassung des OLG Dresden für die nur im Neufestsetzungsverfahren vorgesehene Befristung kein Raum. Auch der Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ist nicht entscheidend für die Erstbemessung. Ebenso wenig kommt es auf den Zeitpunkt der vom Versicherer veranlassten ärztlichen Invaliditätsfeststellung an (vgl. BGH, Urteil vom 18.11.2015 – IV ZR 124/15).
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