Psychiatrisches Gutachten zur Feststellung der Berufsunfähigkeit
Anforderungen an ein psychiatrisches Gutachten zur Feststellung der Berufsunfähigkeit
Ein psychiatrisches Gutachten zur Feststellung der Berufsunfähigkeit genügt den Anforderungen nicht, wenn es lediglich auf ärztliche Zeugnisse Bezug nimmt, die allein die Angaben des Versicherungsnehmers referieren. Dem Gutachten muss sich in jedem Fall die eingehende Exploration des Patienten und eine kritische Überprüfung der Beschwerdeschilderung entnehmen lassen.
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OLG Dresden, 05.11.2019, 4 U 390/18
Sachverhalt:
Die Klägerin begehrt Leistungen aus einer bei der Beklagten gehaltenen Berufsunfähigkeitsversicherung. Zwischen der im April 1979 geborenen Klägerin und der Beklagten besteht seit dem 06.03.2003 eine fondsgebundene Lebensversicherung für den Todes- und Erlebensfall mit Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung. Dem Vertrag lagen die Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ) zugrunde. Die als Zahnarzthelferin ausgebildete Klägerin übte von 2008 bis zur Kündigung im Februar 2013 eine Tätigkeit als leitende Angestellte in einem zahntechnischen Labor aus. Vom 19.03.2012 bis zum 25.04.2012 befand sie sich wegen einer rezidivierenden depressiven Störung sowie einer Panikstörung in teilstationärer Behandlung. Sie wurde als arbeitsunfähig entlassen und nahm in der Folge ihre Tätigkeit bei dem Dentallabor nicht wieder auf. Im November 2012 nahm sie eine Nebentätigkeit als Klangtherapeutin/Entspannungstrainerin für Kinder auf, für die sie über eine Website im Internet warb und die sie zumindest bis 2015 fortführte. Ein weiterer stationärer Aufenthalt erfolgte vom 18.12.2013 – 31.01.2014 unter der Diagnose Angst und depressive Störung. Anschließend wurde die Klägerin teilstationär vom 31.01.2014 bis zum 25.06.2014 behandelt. Am 13.03.2014 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Leistungsantrag wegen einer seit Dezember 2013 bestehenden Berufsunfähigkeit. Ferner begann sie 2014 eine Ausbildung als Osteopathin, die sie im Sommer 2016 abbrach. Zumindest bis zu diesem Zeitpunkt war sie zudem nebenerwerblich bis zu drei Stunden täglich als Assistentin in einer osteopathischen Praxis tätig. Das Landgericht hat der Klage nach Beweisaufnahme durch Einvernahme eines Zeugen sowie Einholung eines Sachverständigengutachtens stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass es aufgrund der Beweisaufnahme davon überzeugt sei, dass die Klägerin ihre zuletzt an gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit als leitende Angestellte in einem Dentallabor aufgrund ihres seelischen Krankheitszustandes nicht mehr auszuüben vermag. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung.
Entscheidungsanalyse:
Der 4. Zivilsenat des OLG Dresden hat die Klage abgewiesen. Denn die Klägerin habe nicht bewiesen, dass sie aufgrund ihres seit Dezember 2012 bestehenden Gesundheitszustandes berufsunfähig i.S.d. § 1 Satz 1 VVG i.V.m. §§ 1, 2 der Bedingungen für die BUZ zur Lebensversicherung sei. Voraussetzung für eine Berufungsunfähigkeit ist nach Worten des Senats, dass der Versicherte infolge Krankheit voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % außerstande ist oder gewesen ist, seinen Beruf auszuüben. Der Senat führt zur Begründung aus, dass von dem Vorliegen der vertraglichen Voraussetzungen für eine Berufsunfähigkeit nach dem Gutachten des zweitinstanzlich beauftragten Sachverständigen Dr. P. G. nicht mit einer für eine hinreichende Überzeugungsbildung notwendigen Sicherheit auszugehen ist. Dies gehe zu Lasten der für das Vorliegen der Voraussetzungen einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit beweisbelasteten Klägerin. Der Sachverständige gehe nachvollziehbar davon aus, dass die von ihm festgestellten psychischen Störungen sich nicht soweit auf die berufliche Leistungsfähigkeit der Klägerin auswirkten, dass sie dauerhaft weniger als die Hälfte ihres früheren Arbeitspensums als leitende Angestellte in einem Dentallabor bewältigen könne. Die Klägerin zeige trotz zeitweise bestehender rezidivierender schwerer Depressionsschübe ein breites Handlungs-Aktivitäts-Spektrum einschließlich Zuverlässigkeit und Interaktions- sowie Kommunikationskompetenz und sei daher im Berufsleben im wesentlichen funktionsfähig. Einen Automatismus zwischen einer diagnostizierten Depression und einer Funktionsstörung bzw. einer Einschränkung bei der Erbringung durchschnittlicher Arbeitsleistungen gebe es – so der Sachverständige – ohnehin nicht. Zahlreiche Personen litten an Depressionen, könnten aber dennoch in den unterschiedlichsten Berufen funktionieren. Das OLG weist außerdem darauf hin, dass sich die Begutachtung durch den erstinstanzlichen Sachverständigen auch methodisch als nicht in jeder Hinsicht überzeugend darstellt, da eine intensive Exploration der Klägerin nicht erfolgt ist. Nach Auffassung des Senats genügt es nämlich nicht, auf ärztliche Zeugnisse Bezug zu nehmen, die nur Angaben des Versicherungsnehmers referieren und daraus einen diagnostischen, klassifikatorischen Schluss ziehen. Vielmehr müssten alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft werden. Dabei gelte es vorab zwischen (subjektiven) Beschwerdeschilderungen und (objektiven) Befunden zu unterscheiden. Das OLG kritisiert, dass sich im konkreten Fall dem erstinstanzlicen Gutachten von Prof. Dr. S. keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen lassen, dass der Sachverständige die Angaben der Klägerin im Rahmen des zweistündigen Anamnesegesprächs auch in Bezug auf die referierten Vorbefunde kritisch hinterfragt oder hinreichend überprüft hat, ob die von ihm festgestellte Dysthymie sie tatsächlich hindert, als maßgeblich bewertete Teiltätigkeiten auszuüben. Daher werde auch durch das Gutachten von Prof. Dr. S. nicht mit hinreichender Sicherheit belegt, dass sie die bei der Klägerin festgestellten psychischen Störungen sich derart auf die berufliche Leistungsfähigkeit ausgewirkt hätten, dass die Voraussetzungen für den bedingungsgemäßen Eintritt der Leistungspflicht erfüllt sein. Der Senat stellt klar, dass sich dies zum Nachteil der beweisbelasteten Klägerin auswirkt. Das OLG ist daher zu dem Ergebnis gelangt, dass die Berufung der Beklagten Erfolg hat.
Praxishinweis:
Das OLG Dresden macht in diesem Urteil auch deutlich, dass die nachvollziehbare Erfassung des allgemeinen Funktionsniveaus des Versicherungsnehmers nach der sog. GAF-Skala (Global Assessment of functioning-scale) im Rahmen der gebotenen Gesamtwürdigung auch in die Beurteilung der Berufsunfähigkeit einfließen kann. Mit der sog. GAF-Skala wird nach Auffassung des OLG das allgemeine Funktionsniveau einer Person in realistischer Sicht erfasst.
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