Gleichstellung unabhängig von Religion/Weltanschauung
EuGH: Anforderungen für Arbeitnehmer bei religiösen Organisationen
Frau Egenberger bewarb sich auf eine Stelle, die vom Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung ausgeschrieben worden war, einem privatrechtlichen Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland, das ausschließlich gemeinnützige, mildtätige und religiöse Zwecke verfolgt. Der Aufgabenbereich der auf 18 Monate befristeten Stelle umfasste die Erarbeitung eines Berichts über die Einhaltung des Übereinkommens der Vereinten Nationen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung durch Deutschland. Dazu gehörte die öffentliche und fachliche Vertretung des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung sowie die Koordination des Meinungsbildungsprozesses innerhalb dieses Verbandes. In der Stellenanzeige hieß es, dass die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder einer der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche vorausgesetzt werde. Frau Egenberger bekam die Stelle nicht. Sie macht geltend, dies liege daran, dass sie keiner Religionsgemeinschaft angehöre. Sie klagte daher vor den deutschen Arbeitsgerichten auf Zahlung einer Entschädigung in Höhe von etwa 10 000 Euro, weil sie aus Gründen der Religion diskriminiert worden sei. Um zu klären, ob Frau Egenberger aus der Sicht des Unionsrechts rechtswidrig diskriminiert wurde oder ob ihre Ungleichbehandlung gerechtfertigt war, hat das Bundesarbeitsgericht (Deutschland) dem Gerichtshof eine Reihe von Fragen vorgelegt. Insbesondere möchte es vom Gerichtshof wissen, inwieweit berufliche Anforderungen, die von religiösen Organisationen unter Berufung auf das Privileg der kirchlichen Selbstbestimmung gestellt werden, gerichtlich überprüft werden können. Das Bundesarbeitsgericht führt aus, nach deutschem Recht sei diese gerichtliche Überprüfung auf eine Plausibilitätskontrolle beschränkt, die auf der Grundlage des glaubensdefinierten kirchlichen Selbstverständnisses erfolgen müsse. Es möchte ferner Aufschluss darüber erhalten, wie die widerstreitenden Interessen – die Freiheit der Weltanschauung und das Recht, nicht wegen der Religion oder der Weltanschauung diskriminiert zu werden, auf der einen Seite sowie das Recht der religiösen Organisationen auf Selbstbestimmung und Autonomie auf der anderen Seite – gegeneinander abzuwägen sind.
In seinen Schlussanträgen weist Generalanwalt Evgeni Tanchev darauf hin, dass die für die Entscheidung des Rechtsstreits maßgebende Unionsrichtlinie (RL 2000/78/EG) eine Sonderregel enthalte, die für die besonderen Umstände geschaffen worden sei, unter denen religiöse Organisationen zu einer Ungleichbehandlung wegen der Religion oder der Weltanschauung berechtigt seien. Diese Regel bestimme die Parameter für den Standard der gerichtlichen Überprüfung, der gelte, wenn die Auffassung einer religiösen Organisation, dass eine Ungleichbehandlung aus Gründen der Weltanschauung keine rechtswidrige Diskriminierung darstelle, angefochten werde. Maßgebend sei, ob die Religion oder Weltanschauung einer Person nach der Art der fraglichen Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung angesichts des Ethos der Organisation eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle.
Generalanwalt Tanchev vertritt erstens die Auffassung, dass ein Arbeitgeber wie das Evangelische Werk für Diakonie und Entwicklung – bzw. die Kirche für ihn – nicht verbindlich selbst bestimmen könne, ob eine bestimmte Religion eines Bewerbers nach der Art der fraglichen Tätigkeit oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts seines/ihres Ethos darstelle. Zwar müsse die gerichtliche Überprüfung des Ethos der Kirche begrenzt sein, doch heiße dies nicht, dass das Gericht eines Mitgliedstaats der Verpflichtung enthoben wäre, die fraglichen Tätigkeiten zu würdigen, um zu klären, ob die Religion oder Weltanschauung einer Person eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle.
Zweitens ist der Generalanwalt der Ansicht, das Bundesarbeitsgericht habe bei der Prüfung, ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion bei bestimmten Tätigkeiten nach der Art der Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung und angesichts des Ethos der Organisation eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung sei, Folgendes zu berücksichtigen:
– Das Recht religiöser Organisationen auf Autonomie und Selbstbestimmung sei im Unionsrecht anerkannt und geschützt. Die Richtlinie und insbesondere die dortige Bezugnahme auf das „Ethos“
religiöser Organisationen seien im Einklang mit diesem Grundrecht auszulegen.
– Die Mitgliedstaaten hätten einen weiten, aber keinen unbegrenzten Spielraum in Bezug darauf, bei welchen beruflichen Tätigkeiten nach ihrer Art oder den Umständen ihrer Ausübung die Religion
oder Weltanschauung als wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung anzusehen sei.
– Die Richtlinie sei so umzusetzen, dass das von den einzelnen Mitgliedstaaten gewählte Modell für die Gestaltung der Beziehungen zwischen Kirchen und religiösen Vereinigungen oder
Gemeinschaften und dem Staat geachtet und nicht beeinträchtigt werde.
– Das Wort „gerechtfertigt“ in der Richtlinie mache eine Prüfung erforderlich, ob berufliche Anforderungen, die mit einer unmittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Religion oder Weltanschauung
verbunden seien, in angemessener Weise an den Schutz des Rechts des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung auf Autonomie und Selbstbestimmung angepasst seien, dergestalt, dass
sie zur Erreichung dieses Ziels geeignet seien.
– Die Worte „wesentliche, rechtmäßige“ in der Richtlinie erforderten eine Analyse der Nähe der fraglichen Tätigkeiten zum Verkündigungsauftrag des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung.
– Die Auswirkungen – im Sinne der Verhältnismäßigkeit – auf das rechtmäßige Ziel, die praktische Wirksamkeit des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Religion oder der Weltanschauung
sicherzustellen, müssten gegen das Recht des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung auf Autonomie und Selbstbestimmung abgewogen werden, wobei gebührend zu berücksichtigen sei,
dass die Richtlinie nicht zwischen Einstellung und Entlassung unterscheide.
Drittens weist der Generalanwalt darauf hin, dass die vorliegende Sache einen Rechtsstreit zwischen zwei privaten Parteien betreffe, was bedeute, dass die nationalen Gerichte im Rahmen ihrer Befugnisse alles tun müssten, um das einschlägige nationale Recht im Einklang mit der Richtlinie auszulegen. Sei dies dem nationalen Gericht jedoch aufgrund eines klaren Konflikts zwischen der Richtlinie und den einschlägigen nationalen Bestimmungen unmöglich, finde diese Verpflichtung keine Anwendung mehr.
Sollte das Bundesarbeitsgericht zu dem Ergebnis gelangen, dass das in Rede stehende deutsche Recht nicht im Einklang mit dem in der Richtlinie enthaltenen Verbot der Diskriminierung wegen der Weltanschauung ausgelegt werden könne, stünde Frau Egenberger daher nach dem Unionsrecht die Möglichkeit offen, gegen Deutschland eine Klage auf Schadensersatz aus Staatshaftung zu erheben. Das in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zum Ausdruck kommende Verbot der Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung sei nämlich kein subjektives Recht, das in einem Fall, in dem es in Widerstreit zum Recht religiöser Organisationen auf Autonomie und Selbstbestimmung stehe, horizontale Wirkung zwischen Privatpersonen entfalte.
Schlussanträge des Generalanwalts vom 09.11.2017 in der Rechtssache C-414/16
Quelle: Pressemitteilung Nr. 117/2017 des EuGH vom 09.11.2017