Zuleitungsgebot eines Einigungsstellenspruchs
Zuleitungsgebot eines Einigungsstellenspruchs
Sind die von der Einigungsstelle durch Spruch getroffenen Regelungen in mehreren Schriftstücken niedergelegt, erfordert § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG, dass beiden Betriebsparteien jeweils alle Bestandteile des Spruchs zugeleitet werden. Fehlt es hieran, ist der Einigungsstellenspruch unwirksam. Die von einer Einigungsstelle mit dem Regelungsauftrag „Gefährdungsbeurteilung“ durch verfahrensrechtliche Vorgaben auszugestaltenden Handlungspflichten des Arbeitgebers im Rahmen von § 5 Abs. 1 ArbSchG erfassen weder die Prüfung, welche konkreten Arbeitsschutzmaßnahmen angesichts einer ermittelten Gefährdung ggf. in Betracht kommen können, noch deren Wirksamkeitskontrolle.
Originalentscheidung auf Wolters Kluwer aufrufen:
BAG, 13.08.2019, 1 ABR 6/18
Sachverhalt:
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit eines Einigungsstellenspruchs zur Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen. Eine Mitte Dezember 2008 errichtete Einigungsstelle beschloss nach 16 Sitzungen am 08.09.2016 eine Betriebsvereinbarung „Gefährdungsbeurteilung“ (BV). Der vom Vorsitzenden unterzeichnete Einigungsstellenspruch wurde dem Betriebsrat am 12.10.2016 ohne die fünf im Spruch genannten Anlagen zugestellt. Im Januar 2017 übersandte der Einigungsstellenvorsitzende den Beteiligten den unterschriebenen Spruch einschließlich der – nunmehr mittels Heftklammern miteinander verbundenen – Anlagen erneut zu. Der Betriebsrat hat geltend gemacht, die BV sei nicht nur formell unwirksam, sondern auch materiell rechtsfehlerhaft. Die Einigungsstelle habe ihren Regelungsauftrag nicht erfüllt. Weder seien die Arbeitsbedingungen arbeitsplatzbezogen erfasst noch die möglichen Gefährdungen auf den einzelnen Arbeitsplätzen und die Kriterien für die Beurteilung der zu überprüfenden Arbeitsbedingungen hinreichend konkretisiert. Auch die Vorgaben für die Beurteilung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz seien unzureichend. Das Arbeitsgericht hat dem Antrag des Betriebsrats stattgegeben. Auf die Beschwerde der Arbeitgeberin hat das Landesarbeitsgericht lediglich die teilweise Unwirksamkeit festgestellt. Mit ihren Rechtsbeschwerden verfolgen die Beteiligten ihr jeweiliges Begehren weiter. Der 1. Senat hat festgestellt, dass die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats erfolgreich ist.
Entscheidungsanalyse:
Der Einigungsstellenspruch vom 08.09.2016 ist unwirksam. Der Spruch genügt nicht dem gesetzlichen Schriftformgebot. Nach § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG sind die Beschlüsse der Einigungsstelle schriftlich niederzulegen, vom Vorsitzenden zu unterschreiben und Arbeitgeber und Betriebsrat zuzuleiten. Die Einhaltung der gesetzlichen Schriftform ist Wirksamkeitsvoraussetzung eines Einigungsstellenspruchs (vgl. BAG, Urteil vom 10.12.2013 – 1 ABR 45/12). Maßgeblich für die Beurteilung der Formwirksamkeit ist der Zeitpunkt, in dem der Einigungsstellenvorsitzende den Betriebsparteien den Spruch mit der Absicht der Zuleitung i.S.d. § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG übermittelt. Dem Schriftformerfordernis ist auch genügt, wenn im Einigungsstellenspruch klar und zweifelsfrei auf – nicht vom Einigungsstellenvorsitzenden unterzeichnete – Schriftstücke verwiesen wird, selbst wenn diese nicht körperlich mit der Urkunde verbunden sind. Allerdings ist ein solches Bezugsobjekt von einem darauf bezogenen Verweis in eindeutiger Form zu bezeichnen. Fehlt es sowohl an einer körperlichen Verbindung als auch an einer Unterzeichnung oder Paraphierung einer Anlage, verlangt die Wahrung der Schriftform zudem, dass zweifelsfrei nur eine Fassung der in Bezug genommenen, eindeutig bezeichneten Anlage existiert. Andernfalls lässt sich nicht zuverlässig feststellen, welche Normen für die im Betrieb Normunterworfenen gelten sollen. Hier genügten jedenfalls drei der Anlagen diesen Anforderungen nicht, u.a. weil die namentliche Bezeichnung der Anlagen nicht mit deren Titel übereinstimmen. Keine dieser Anlagen ist – etwa durch die Angabe eines bestimmten Datums oder einer bestimmten Fassung des Schriftstücks – in dem im Spruch enthaltenen Verweis konkreter bezeichnet. Die Anlagen selbst enthalten auch keinen Rückverweis auf die BV. Die BV ist außerdem unwirksam, weil der Spruch entgegen den Vorgaben des § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG im Oktober 2016 nicht beiden Beteiligten vollständig vom Vorsitzenden zugeleitet wurde. Sind die von der Einigungsstelle durch Spruch getroffenen Regelungen nicht nur in einem Schriftstück, sondern in mehreren niedergelegt, erfordert § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG, dass beiden Betriebsparteien jeweils alle Bestandteile des Spruchs zugeleitet werden. Der Vorsitzende der Einigungsstelle konnte den Verstoß gegen das Schriftformgebot und das Zuleitungsgebot nach § 76 Abs. 3 Satz 4 BetrVG nicht durch eine erneute Zuleitung des Spruchs mit Anlagen im Januar 2017 heilen. Das Einigungsstellenverfahren ist mit Zugang des mit Zuleitungswillen den Betriebsparteien übermittelten Einigungsstellenspruchs abgeschlossen und lediglich bei einer gerichtlich festgestellten Unwirksamkeit des Spruchs fortzusetzen. Eine rückwirkende Heilung durch erneute Zustellung aller Bestandteile des Spruchs ist daher nicht möglich (vgl. BAG, Urteil vom 10.12.2013 – 1 ABR 45/12). Der Spruch ist aber auch materiell unwirksam. Die Einigungsstelle hat ihren Regelungsauftrag teilweise überschritten. Soweit sie sich innerhalb desselben gehalten hat, hat sie ihn zum Teil mangels konkreter Regelungen nicht erfüllt oder die Grenzen des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG missachtet. Der Einigungsstelle obliegt es im Rahmen von § 5 Abs. 1 ArbSchG Vorgaben zur Durchführung der Gefährdungsbeurteilung zu regeln, nicht jedoch die auf den zu beurteilenden Arbeitsplätzen tatsächlich bestehenden Arbeitsbedingungen im Spruch zu erfassen. Die von einer Einigungsstelle mit dem Regelungsauftrag „Gefährdungsbeurteilung“ durch verfahrensrechtliche Vorgaben auszugestaltenden Handlungspflichten des Arbeitgebers im Rahmen von § 5 Abs. 1 ArbSchG erfassen weder die Prüfung, welche konkreten Arbeitsschutzmaßnahmen angesichts einer ermittelten Gefährdung ggf. in Betracht kommen können, noch deren Wirksamkeitskontrolle.
Praxishinweis:
Die dem Arbeitgeber nach § 5 Abs. 1 ArbSchG auferlegten – und von einer Einigungsstelle mit dem Regelungsauftrag Gefährdungsbeurteilung durch verfahrensrechtliche Vorgaben auszugestaltenden – Handlungspflichten betreffen die Ermittlung, ob und ggf. welche Gefährdungen mit der Arbeit einhergehen, deren Bewertung nach ihrer Schwere und dem Risiko ihrer Realisierung sowie die Prüfung, ob Schutzmaßnahmen geboten sind und der Dringlichkeit eines Handlungsbedarfs. Der auszugestaltende Handlungsspielraum des Arbeitgebers erfasst dagegen nicht die Ermittlung konkreter Arbeitsschutzmaßnahmen angesichts festgestellter Gefährdungen und deren Wirksamkeitskontrolle.
Wenn Sie Fragen zum Zuleitungsgebot eines Einigungsstellenspruchs haben, dann nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf.