Zeitpunkt vollständiger Berufsunfähigkeit
Zeitpunkt vollständiger Berufsunfähigkeit
Wird in den Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung die Frage, wann vollständige Berufsunfähigkeit vorliegt, dahin beantwortet, dass sie vorliegt, „wenn die versicherte Person infolge Krankheit … 6 Monate ununterbrochen außerstande war oder voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben“, so tritt der Versicherungsfall auch bei der ersten Alternative („6 Monate .. war“) bereits mit dem Beginn des Sechsmonatszeitraums ein.
Originalentscheidung auf Wolters Kluwer Online aufrufen:
KG Berlin, 26.05.2020, 6 U 75/19
Sachverhalt:
Mit seiner Klage macht der Kläger gegenüber der beklagten Versicherungsgesellschaft Ansprüche auf Zahlung einer weiteren Berufsunfähigkeitsrente nebst Zinsen sowie vorgerichtlicher Anwaltskosten geltend. Die Parteien schlossen mit Wirkung zum 01.10.2009 auf der Grundlage der „Allgemeine Bedingungen für die Berufungsunfähigkeitsversicherung … Stand: 07.2009“ eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit Nachversicherungsgarantie, durch die dem Versicherungsnehmer das Recht eingeräumt wird, bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen den Versicherungsumfang der bestehenden Berufsunfähigkeitsversicherung ohne erneute medizinische Risikoprüfung zu erhöhen. Am 29.07.2016 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall, welcher zu einem massiven Bandscheibenschaden führte. Seitdem ist der Kläger nicht mehr arbeitsfähig. Anfang Dezember 2016 meldete der Kläger einen Leistungsanspruch wegen Berufsunfähigkeit bei der Beklagten an. Mit Schreiben vom 05.09.2017 erkannte die Beklagte die Berufsunfähigkeit des Klägers mit Beginn am 29.07.2016 an und bewilligte Rentenleistungen und Beitragsbefreiung ab dem 01.08.2016. Seitdem zahlt die Beklagte an den Kläger die sich aus dem ursprünglichen Berufsunfähigkeitsversicherungsvertrag ergebende monatliche Rente von 546,15 Euro zuzüglich Bonusrente in Höhe von 0,81 Euro seit dem 01.09.2016 und in Höhe von 1,63 Euro ab dem 01. September 2017; insoweit besteht zwischen den Parteien auch kein Streit. Der Kläger vertritt die Auffassung, bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit sei erst sechs Monate nach dem Unfall am 29.01.2017 eingetreten, sodass eine weitere Berufsunfähigkeitsrente nach Maßgabe des zum 01.11.2016 erhöhten Versicherungsschutzes ab dem 01.08.2016 zu leisten sei. Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Klage abgewiesen, da die Beklagte lediglich verpflichtet sei, dem Kläger eine Berufsunfähigkeitsrente in der Höhe zu zahlen, die bei Eintritt der Berufsunfähigkeit vereinbart war. Bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit habe nicht erst nach Ablauf des in Nr. 1.2.1 AVB geregelten Sechsmonatszeitraums, sondern gemäß Nr. 2.4.1 AVB bereits mit dessen Beginn am 29.07.2916 vorgelegen. Gegen dieses Urteil wendet sich der Kläger mit seiner Berufung.
Entscheidungsanalyse:
Der 6. Zivilsenat des KG Berlin hat geurteilt, dass dem Kläger gegen die Beklagte kein Anspruch auf Zahlung einer weiteren Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von 546,15 Euro ab dem 01.08.2016 aus den §§ 1, 172 VVG in Verbindung mit den vereinbarten AVB zusteht, weil der Versicherungsschutz aus der Nachversicherung bei Eintritt der unstreitigen Berufsunfähigkeit des Klägers noch nicht begonnen hatte (Nr. 1.1 AVB), der Kläger vielmehr bereits vor – und nicht während – der Dauer der Nachversicherung berufsunfähig geworden war (Nr. 2.1.1 AVB). Der Senat weist zur Begründugn zunächst darauf hin, dass nach 1.2.1 AVB vollständige Berufsunfähigkeit vorliegt, wenn die versicherte Person infolge Krankheit … 6 Monate ununterbrochen außerstande war oder voraussichtlich 6 Monate ununterbrochen außerstande ist, ihren zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben. Dem Versicherungsnehmer werde hierbei auffallen, dass in Nr. 1.2.1 AVB kein Zeitpunkt, sondern ein Zeitraum von „sechs Monaten ununterbrochen“, dieser aber zweimal genannt wird, und aus der Trennung durch das Wort „oder“ erschließe sich ihm, dass diese Voraussetzungen in einem Alternativverhältnis stehen, es für das Vorliegen von Berufsunfähigkeit also ausreicht, wenn eine dieser beiden Voraussetzungen erfüllt ist. Nach Auffassung des Senats fällt nach den Verständnismöglichkeiten und Interessen eines durchschnittlichen Versicherungsnehmers der Eintritt seiner Berufsunfähigkeit aber in beiden Fällen auf den Zeitpunkt, ab dem er (infolge Krankheit etc.) voraussichtlich außerstande ist oder rückblickend tatsächlich außerstande war, seinen (zuletzt ausgeübten) Beruf auszuüben, also jeweils auf den Beginn des Sechsmonatszeitraums. Denn er werde nicht auf den Gedanken kommen, dass er abhängig von dem jeweiligen Beurteilungszeitpunkt zu unterschiedlichen Zeitpunkten – einmal sechs Monate früher, einmal sechs Monate später – berufsunfähig geworden sein könnte. Sollte er trotzdem noch Zweifel betreffend den Beginn der Berufsunfähigkeit haben, wird er nach Worten des KG die Bedingungen weiter aufmerksam durchsehen und dabei auch Nr. 2.4.1 AVB entdecken, wonach „der Anspruch auf Leistungen mit Beginn des Kalendermonats nach Eintritt der Berufsunfähigkeit (=Beginn des sechsmonatigen Zeitraums gemäß Abschnitt 1.2.1)“ entsteht. Spätestens dann werde auch dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse durch das Istgleichzeichen am Anfang des Klammerzusatzes zweifelsfrei klar, dass Berufsunfähigkeit mit dem Beginn des sechsmonatigen Zeitraums nach Nr. 1.2.1 AVB eintritt. Aus Sicht des KG steht die Klausel Nr. 2.4.1 AVB auch nicht in Widerspruch zu der Regelung in Nr. 1.2.1 AVB, sondern stellt eine klarstellende Ergänzung dieser Klausel dar. Das KG ist daher zu dem Ergebnis gelangt, dass das Landgericht die Klage auf Zahlung einer weiteren Berufsunfähigkeitsrente zu Recht abgewiesen und die Berufung keinen Erfolg hat.
Praxishinweis:
Das KG Berlin hat hier außerdem die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO und zur Fortbildung des Rechts gemäß § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO zugelassen, da es sich bei den hier für die Berufsunfähigkeitsversicherung verwendeten Versicherungsbedingungen um Allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne des § 305 Abs. 1 BGB handelt, die für eine Vielzahl von Verträgen aufgestellt wurden und deren Auslegung wegen ihrer Bedeutung für die beteiligten Verkehrskreise grundsätzliche Bedeutung zukommt.
Wenn Sie Fragen zum Zeitpunkt der vollständigen Berufsunfähigkeit haben, dann nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf.