Ergänzende Vertragsauslegung bei einer Invaliditätsversicherung
Ergänzende Vertragsauslegung bei einer Invaliditätsversicherung für Erwachsene
Seit dem Inkrafttreten der Pflegereform durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz zum 01.01.2017 hat sich der Begriff der Pflegebedürftigkeit des SGB XI geändert. Die Pflegestufen wurden mit Pflegegraden ersetzt. Daher kann es im Fall der Aufnahme eines solchen Begriffes in allgemeinen Versicherungsbedingungen (einer Invaliditätsversicherung für Erwachsene) unerlässlich sein, den Vertrag ergänzend auszulegen.
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OLG Naumburg, 09.05.2023, 1 U 91/22
Sachverhalt:
Die Klägerin unterhält bei der Beklagten seit Mai 2014 eine Invaliditätsversicherung für Erwachsene im Tarif … Rent unter Vereinbarung der Bedingungen zur B. -Invaliditätsversicherung für Erwachsene (… Rent), Stand 21.12.2012. Zu den versprochenen fünf Leistungsarten zählen u.a. eine Pflegerente und eine Krebsrente. Die Leistung wird als monatliche Rente in Höhe der vereinbarten Versicherungssumme gewährt, wenn die Voraussetzungen einer oder mehrerer Leistungsarten erfüllt sind. Die Versicherungssumme beträgt im Falle der Klägerin seit Januar 2022 1.209,00 Euro und wird bis zum 67. Lebensjahr bei einer Leistungsdynamik von 1,5% zugesagt. Mit dem Inkrafttreten der Pflegereform durch das Zweite Pflegestärkungsgesetz zum 01.01.2017 wurden die Pflegestufen durch Pflegegrade ersetzt. Die Klägerin erkrankte an Krebs. Ein Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung gelangt zu dem Ergebnis eines seit dem 01.03.2019 bestehenden Pflegegrades 2 der Klägerin. Die Pflegekasse bewilligte daraufhin Pflegegeld nach dem Pflegegrad 2 ab dem 28.03.2019. Noch im Jahr 2019 wandten sich die Prozessbevollmächtigten der Klägerin an die Beklagte und meldeten den Anspruch auf die Rente an. Die Beklagte teilte daraufhin mit Schreiben vom 25.08.2020 mit, ab dem 01.01.2019 für 36 Monate die vereinbarte Krebsrente zu zahlen. Auf die im Sommer 2021 erhobene Forderung der Klägerin, die Rente darüber hinaus weiter zu erbringen, ließ sich die Beklagte nicht ein. Mit der Klage hat die Klägerin daraufhin die Zahlung der Pflegerente von 1.209,00 Euro ab Januar 2022 und in gewillkürter Prozessstandschaft den Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 2.147,83 Euro verlangt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung.
Entscheidungsanalyse:
Der 1. Zivilsenat des OLG Naumburg hat geurteilt, dass der klagenden Versicherungsnehmerin im Ergebnis der notwendigen ergänzenden Auslegung des Versicherungsvertrages die geltend gemachte Pflegerente einschließlich der zur außergerichtlichen Rechtsverfolgung aufgewandten Kosten aus § 1 S. 1 VVG i.V.m. dem Versicherungsvertrag und Ziff. 1, 2.3 der AVB sowie §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 3, 185 BGB zusteht. Der Senat teilt nicht die Auffassung des LG, der Versicherungsfall sei nicht eingetreten, da die Klägerin nicht während der Vertragslaufzeit in die Pflegestufe I, II oder III eingestuft worden sei. Aus Sicht des Senats ist hier Versicherungsfall die durch die Entscheidung der Pflegekasse mit der Pflegestufe ausgewiesene Pflegebedürftigkeit. Der Versicherungsnehmer erkennt nach Aufassung des OLG, dass er im Falle einer mit der Pflegestufe I, II oder III sozialrechtlich bescheinigten Pflegebedürftigkeit auch einen Anspruch auf die Versicherungsleistung „Pflegerente“ erwirbt. Dies führe nicht zu einer Art dynamischer Verweisung auf den sozialrechtlichen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Nach Überzeugung des OLG kommt es im Einzelfall nicht darauf an, ob tatsächlich eine Pflegebedürftigkeit vorliegt. Wenn die Pflegekasse im Zuge der Leistungsgewährung eine Pflegestufe zuerkannt habe, so sei der Versicherungsfall eingetreten. Fehle es an der Zuordnung zu einer Pflegestufe, so fehlt eine Leistungsvoraussetzung und es gebe keinen Anspruch auf die Pflegerente. Bezogen auf den konkreten Fall stellt der Senat klar, dass die Klägerin im Sinne der sozialen Pflegeversicherung mit dem Pflegegrad 2 (erhebliche Beeinträchtigung der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten) pflegebedürftig ist. Der Senat betont, dass die Pflegerente zu leisten ist, wenn die versicherte Person wie hier im Fall zumindest den Pflegegrad 2 erhält. Der Vertrag knüpfe daher nicht an konkrete Defizite der versicherten Person, sondern an die Entscheidung der Pflegekasse an. Der Senat führt weiter aus, dass die Pflegestufen weggefallen sind, und dass an ihre Stelle Pflegegrade traten, die geänderten Kriterien folgen und – mit dem Pflegegrad 1 – niedrigschwelliger angelegt sind. Daher sei eine ergänzende Vertragsauslegung erforderlich. Nach Worten des OLG hat die Klägerin im Ergebnis seit dem Auslaufen der Krebsrente einen auf die Pflegerente gerichteten weitergehenden Leistungsanspruch, sodass sie neben den rückständigen Beträgen der Monate Januar bis August 2022 nach § 258 ZPO auch zukünftig fällig werdende Leistungen beanspruchen kann.
Praxishinweis:
Das OLG Naumburg stellt in diesem Urteil klar, dass mit der Pflegereform ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff neben einem neuen Begutachtungsinstrument eingeführt wurde, die keine Pflegestufen mehr kennen. Seither entscheidet die Pflegekasse nach Worten des OLG nicht mehr über Pflegestufen, sodass der vertraglichen Regelung der Parteien hier die Anknüpfung für den Versicherungsfall abhandenkam, was zu einer planwidrigen Lücke führte. Mittel zur Lückenschließung sei die ergänzende Vertragsauslegung. Anhaltspunkte hierfür seien die erkennbar versicherte Schwere der Pflegebedürftigkeit, die Wertung des Gesetzgebers und die neuen Bedingungen des Versicherers.
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