Kriterien für die Beurteilung einer Berufsunfähigkeit
Kriterien für die Beurteilung einer Berufsunfähigkeit
Der Beurteilung, ob der Versicherte bedingungsgemäß berufsunfähig geworden ist, ist die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit so zugrunde zu legen, wie sie sich nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in zeitlicher Ausprägung darstellt. Es ist nicht auf die durchschnittliche Anzahl von Arbeitsstunden bei einer fiktiven 5-Tage-Woche abzustellen. Maßgebend ist die tatsächlich an einzelnen Wochentagen geleistete Anzahl von Arbeitsstunden, um die Belastung des Versicherten beurteilen zu können.
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OLG Schleswig, 24.03.2022, 16 U 86/21
Sachverhalt:
Der Kläger begehrt von der Beklagten Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente, Rückerstattung gezahlter Beiträge sowie rückwirkende Beitragsbefreiung aus einer bei der Beklagten abgeschlossenen Berufsunfähigkeitsversicherung. Der Kläger schloss mit der Beklagten im März 2005 einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung zur Versicherungs-Nr. … ab. Die Parteien vereinbarten als Versicherungsbeginn den 01.03.2005, für den Fall der Berufsunfähigkeit für deren Dauer die Beitragsbefreiung sowie eine Rentenzahlung von monatlich 1.500 Euro bis längstens 28.02.2022 und einen zu zahlenden monatlichen Beitrag von 101,47 Euro bei einer Beitragszahlungsdauer von 17 Jahren. Der Kläger, gelernter Koch und Restaurantfachmann, war, nachdem er zuvor bis 2011 ein eigenes Restaurant betrieben hatte, seit Juni 2013 bis jedenfalls August 2014 in der mit dem Mitgesellschafter, dem Zeugen H1, betriebenen Hausverwaltungsgesellschaft selbstständig tätig. Überdies vermietete er seit 2008 fünf Ferienwohnungen in einem von ihm 1998 erworbenen Mehrfamilienhaus. Im Jahr 2015 veräußerte der Kläger seine Anteile an der Hausverwaltungsgesellschaft. Der Kläger wurde vom 25.02. bis 01.04.2015 stationär in der Reha-Klinik X in Y behandelt und mit der ärztlichen Einschätzung, er sei gegenwärtig noch arbeitsunfähig, jedoch nicht berufsunfähig, entlassen. Am 20.04.2015 machte der Kläger gegenüber der Beklagten Ansprüche aus der Berufsunfähigkeitsversicherung ab September 2014 geltend. Diese Ansprüche wies die Beklagte mit Schreiben vom Oktober 2015 mit der Begründung zurück, aus dem von ihr beauftragten Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie Dr. Z ergebe sich ein vollständiges Leistungsvermögen des Klägers. Der Kläger übte von Mai 2016 bis 2018 zeitweise in verschiedenem Umfang Teilzeittätigkeiten als Hausmeister auf einem Reiterhof, im Bereich der Gartenpflege sowie im Garten- und Landschaftsbau aus und bot Dienstleistungen im handwerklichen Bereich an. Der Kläger hat behauptet, bei ihm liege eine rezidivierende depressive Störung, eine Anpassungsstörung sowie eine maligne Regression vor, und hat insoweit auf den ärztlichen Befundbericht der Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie Dr. XY vom 30.12.2015 verwiesen. Das LG hat die Klage abgewiesen. Dem Kläger sei der Nachweis einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit nicht gelungen. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung.
Entscheidungsanalyse:
Der 16. Zivilsenat des OLG Schleswig hat geurteilt, dass das LG zu Recht die Klage abgewiesen hat, weil der Kläger den Beweis einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit gemäß § 172 VVG, §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 AVB E 356 nicht geführt hat. Der Kläger sei nicht seit September 2014 oder danach voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen infolge Krankheit außerstande oder bereits neun Monate ununterbrochen zu mindestens 50 % außerstande gewesen, seinen zuletzt ausgeübten Beruf auszuüben. Deshalb habe er gegen die Beklagte weder einen Anspruch auf die geltend gemachte Berufsunfähigkeitsrente, noch die begehrte Freistellung von der Beitragspflicht oder auf Rückerstattung bereits im Zeitraum ab September 2014 gezahlter Beiträge. Aus Sicht des OLG besteht beim Kläger allerdings (jedenfalls) seit 2014 eine depressive Spektrumsstörung in Form einer rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10: F 33.9) und einer Dysthymie (ICD-10: F 34.1). Der Senat erläutert, dass mit dem „zuletzt ausgeübten Beruf“ im Sinne der Bedingungen, der für die Bemessung der Berufsunfähigkeit maßgeblich ist, die zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Berufstätigkeit gemeint ist. Danach setzt Berufsunfähigkeit nach Worten des Senats voraus, dass der Versicherte seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge der in den Bedingungen (hier: § 2 Abs. 1 AVB E 356) genannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ganz oder teilweise nicht mehr ausüben kann. Zuletzt ausgeübter Beruf des Klägers in diesem Sinne sei dessen Tätigkeit im bzw. im Zeitraum unmittelbar vor September 2014. Nach Auffassung des OLG ist hierbei nicht auf die durchschnittliche Anzahl von Arbeitsstunden bei einer fiktiven 5-Tage-Woche abzustellen. Maßgebend sei vielmehr die tatsächlich an einzelnen Wochentagen geleistete Anzahl von Arbeitsstunden, um die Belastung des Versicherten beurteilen zu können. Eine Umrechnung der tatsächlichen Arbeitstätigkeit des Klägers auf eine fünf-Tage-Woche bei gleichmäßiger Arbeitsbelastung pro Tag sei daher nicht vorzunehmen. Der beweisbelastete Kläger habe hier den Beweis einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit nicht geführt. Das OLG ist daher zu dem Ergebnis gelangt, dass die Berufung des Klägers keinen Erfolg hat.
Praxishinweis:
Nach der hier vom OLG Schleswig vertretenen Auffassung kommt es bei der Beurteilung, ob der Versicherte bedingungsgemäß berufsunfähig geworden ist, darauf an, wie sich seine gesundheitlichen Beeinträchtigungen in seiner konkreten Berufsausübung ausgewirkt haben. Hierzu muss bekannt sein, wie das Arbeitsumfeld tatsächlich beschaffen ist und welche Anforderungen es an ihn stellt. Nach Ansicht des OLG reicht als Sachvortrag nicht die Angabe des Berufstyps und der Arbeitszeit, vielmehr muss eine ganz konkrete Arbeitsbeschreibung verlangt werden, mit der die anfallenden Tätigkeiten ihrer Art, ihres Umfangs sowie ihrer Häufigkeit nach für einen Außenstehenden nachvollziehbar werden (vgl. BGH, Urteil vom 22.09.2004 – IV ZR 200/03).
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