Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung
Verbot der Diskriminierung aufgrund einer Behinderung
Beschäftigung von Menschen mit Behinderung: Nach Auffassung von Generalanwalt Ramos ist ein Arbeitgeber im Rahmen angemessener Vorkehrungen verpflichtet, einen Arbeitnehmer, der die Eignung verloren hat, seinen Arbeitsplatz einzunehmen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, sofern er die erforderliche Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit besitzt und diese Maßnahme keine unverhältnismäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellt. Diese Vorkehrungen seien eine vorbeugende Maßnahme, um die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung aufrechtzuerhalten und gälten auch für einen Arbeitnehmer, der im Rahmen seiner Einstellung eine Probezeit absolviere.
Der Zweck der öffentlich-rechtlichen Aktiengesellschaft HR Rail besteht in der Auswahl und Einstellung von statutarischem und nicht statutarischem Personal, das für die Erfüllung der Aufgaben der Infrabel SA und der Société nationale des chemins de fer belges (Nationale belgische Eisenbahngesellschaft, SNCB) benötigt wird. HR Rail stellte einen Facharbeiter für die Wartung der Schienenwege ein, der im November 2016 seine Probezeit bei Infrabel begann. Im Dezember 2017 wurde bei diesem Probezeitbeschäftigten (im Folgenden: Beschäftigter) ein Herzproblem diagnostiziert, das das Einsetzen eines Herzschrittmachers erforderlich machte, eines Geräts, das auf elektromagnetische Felder, wie sie u. a. von Eisenbahnschienen ausgehen, empfindlich reagiert. Er wurde daher vom Service public fédéral Sécurité sociale (Föderaler Öffentlicher Dienst Soziale Sicherheit) (Belgien) als behindert anerkannt. Als Folge des Ergebnisses einer ärztlichen Untersuchung erklärte HR Rail den Beschäftigten für endgültig ungeeignet, die Aufgaben, für die er eingestellt worden war, zu erfüllen, und verwendete ihn auf der Stelle eines Lageristen bei Infrabel. Am 26.09.2018 teilte der Leitende Berater der betreffenden Dienststelle von HR Rail dem Beschäftigten seine Entlassung zum 30.09.2018 mit, und zwar mit einem für die Dauer von fünf Jahren geltenden Verbot einer Wiedereinstellung in der Besoldungsgruppe, in der er eingestellt worden war.
Am 26.10.2018 teilte der Generaldirektor von HR Rail dem Beschäftigten mit, dass die Probezeit eines Mitarbeiters, der endgültig für völlig untauglich erklärt wird, beendet werde, wenn er nicht mehr in der Lage sei, die mit seinem Dienstgrad verbundenen Aufgaben wahrzunehmen. Der Beschäftigte beantragte beim Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) die Aufhebung der Entscheidung, ihn zu entlassen. Dieser hat dem Gerichtshof die Frage vorgelegt, ob der Arbeitgeber in einer solchen Situation gemäß der Richtlinie für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (RL 2000/78/EG) und zur Vermeidung jeglicher Diskriminierung wegen einer Behinderung verpflichtet war, den Beschäftigten, anstatt ihn zu entlassen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, für den er kompetent, fähig und verfügbar war.
In seinen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Athanasios Rantos dem Gerichtshof vor, dem Conseil d’État zu antworten, dass ein Arbeitgeber im Rahmen der im Unionsrecht vorgesehenen angemessenen Vorkehrungen verpflichtet ist, einen Arbeitnehmer – auch einen solchen, der im Rahmen seiner Einstellung eine Probezeit absolviert -, der wegen des Eintritts einer Behinderung endgültig ungeeignet ist, den bisherigen Arbeitsplatz im Unternehmen einzunehmen, an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, sofern er die erforderliche Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit besitzt und diese Maßnahme keine unverhältnismäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellt.
Der Generalanwalt weist zunächst darauf hin, dass die Richtlinie 2000/78 einen allgemeinen Rahmen schaffen solle, der gewährleistet, dass alle Personen in Beschäftigung und Beruf gleichbehandelt werden, indem sie ihnen einen wirksamen Schutz vor einer Diskriminierung aus einem der in Art. 1 dieser Richtlinie genannten Gründe, einschließlich einer Behinderung, biete.
Der Kläger habe eine dauerhafte Einschränkung seiner Fähigkeiten erlitten, die auf körperliche Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, hindern können. Deshalb sei er als „Mensch mit Behinderung“ im Sinne der Richtlinie 2000/78 einzustufen. Zudem befinde sich eine Person, die im Rahmen ihrer Einstellung eine Probezeit absolviert, in einer schwächeren Position als eine Person, die einen festen Arbeitsplatz habe. Für sie sei es schwieriger, eine andere Beschäftigung zu finden, wenn sie bei Eintritt einer Behinderung zur Besetzung der Stelle, für die sie eingestellt worden sei, nicht mehr geeignet sei, zumal wenn sie am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn stehe. Deshalb sei es gerechtfertigt, einem solchen Probezeitbeschäftigten den Schutz vor Diskriminierungen zu gewährleisten. Der Generalanwalt unterstreicht insoweit, dass der Beschäftigte im Rahmen seiner Probezeit eine tatsächliche und echte Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis zugunsten und nach Weisung eines Arbeitgebers ausgeübt habe und daher als Arbeitnehmer im Sinne des Unionsrechts einzustufen sei.
Sodann liege dem Begriff der angemessenen Vorkehrungen die Überlegung zugrunde, einen gerechten Ausgleich zwischen den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen und denen des Arbeitgebers zu schaffen. Die entsprechende Richtlinienbestimmung beschränke die getroffenen Maßnahmen nicht auf den von dem Arbeitnehmer mit Behinderung besetzten Arbeitsplatz. Der Zugang zu einer Beschäftigung und zu Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen lasse vielmehr die Möglichkeit einer Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz offen. Deshalb sei im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Begriff „angemessene Vorkehrungen“ weit auszulegen und dahin zu verstehen, dass er die Beseitigung der verschiedenen Barrieren umfasse, die die volle und wirksame Teilhabe der Menschen mit Behinderung am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen Arbeitnehmern, behinderten.
Nach Ansicht des Generalanwalts sollten Menschen mit Behinderung so weit wie möglich weiterbeschäftigt werden, anstatt sie wegen mangelnder Eignung zu entlassen, was nur der letzte Ausweg sein sollte.
Allerdings setze die Verwendung eines Arbeitnehmers mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz innerhalb des Unternehmens voraus, dass er kompetent, fähig und verfügbar sei, die wesentlichen Funktionen dieses neuen Arbeitsplatzes zu erfüllen. Außerdem dürften die angemessenen Vorkehrungen den Arbeitgeber nicht unverhältnismäßig belasten. Dabei seien insbesondere der mit ihnen verbundene finanzielle und sonstige Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten zu berücksichtigen. Die Möglichkeit, einen Arbeitnehmer mit Behinderung an einem anderen Arbeitsplatz zu verwenden, bezieht sich nach Ansicht des Generalanwalts auf den Fall, dass es zumindest eine freie Stelle gibt, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen kann, damit dem Arbeitgeber keine unverhältnismäßige Belastung auferlegt wird.
Zur Originalentscheidung auf Wolters Kluwer Online aufrufen:
Pressemitteilung Nr. 202/2021 des EuGH vom 11.11.2021
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