Missbrauch befristeter Arbeitsverträge
Arbeitnehmer der Stiftungen für Oper und Orchester dürfen nicht vom Schutz gegen den Missbrauch befristeter Arbeitsverträge ausgeschlossen werden
Frau Martina Sciotto war von 2007 bis 2011 aufgrund mehrerer befristeter Arbeitsverträge bei der Fondazione Teatro dell’Opera di Roma (Stiftung Opernhaus Rom) als Balletttänzerin beschäftigt. 2012 beantragte sie beim Tribunale di Roma (Gericht Rom, Italien) die Feststellung der Rechtswidrigkeit der in diesen Verträgen festgelegten Bedingungen und die Umwandlung ihres Arbeitsverhältnisses in einen unbefristeten Vertrag. 2013 wies das Tribunale di Roma diese Klage mit der Begründung ab, dass die nationale Sonderregelung für Stiftungen für Oper und Orchester die Anwendung der allgemeinen Vorschriften über Arbeitsverträge auf diese ausschließe und daher der Umwandlung der von diesen Stiftungen geschlossenen Arbeitsverträge in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis entgegenstehe. Die in der Berufungsinstanz mit diesem Rechtsstreit befasste Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht Rom, Italien) fragt den Gerichtshof, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung entgegensteht, die den Tätigkeitsbereich der Stiftungen für Oper und Orchester von der Anwendung der allgemeinen arbeitsrechtlichen Regelungen ausschließt, mit der der missbräuchliche Rückgriff auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge durch die automatische Umwandlung des befristeten Vertrags in einen unbefristeten geahndet wird, wenn das Arbeitsverhältnis über einen bestimmten Zeitraum hinaus andauert.
Mit seinem Urteil erklärt der Gerichtshof, dass die Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge einer solchen nationalen Regelung entgegensteht, wenn es in dem Mitgliedstaat keine andere wirksame Sanktion gegen die in diesem Bereich festgestellten Missbräuche gibt. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass die Rahmenvereinbarung Mindestschutzbestimmungen vorsieht, mit denen die Prekarisierung der Beschäftigten verhindert werden soll (EuGH, Urteil vom 04.07.2016, Az: C-212/04 u.a.). Die Mitgliedstaaten müssen daher mindestens eine der von der Rahmenvereinbarung vorgesehenen Maßnahmen ergreifen, verfügen dabei insoweit aber über ein Ermessen und haben die Möglichkeit, die besonderen Anforderungen spezifischer Branchen und/oder bestimmter Arbeitnehmerkategorien zu berücksichtigen (EuGH, Urteil vom 26.02.2015, Az.: C-238/14).
Der Gerichtshof stellt fest, dass aus den Akten hervorgeht, dass die italienische Regelung im Tätigkeitsbereich der Stiftungen für Oper und Orchester keine in der Rahmenvereinbarung genannte Begrenzung bezüglich der maximal zulässigen Dauer dieser Verträge oder der Zahl ihrer Verlängerungen vorsieht. Außerdem ist nicht ersichtlich, dass der Einsatz aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge in diesem Bereich durch einen sachlichen Grund gerechtfertigt ist. Hierzu führt der Gerichtshof aus: Der öffentliche Charakter der Stiftungen für Oper und Orchester hat keine Auswirkung auf den Schutz der Arbeitnehmer gemäß der Rahmenvereinbarung, da diese auf sämtliche Arbeitnehmer anwendbar ist, und zwar unabhängig davon, ob sie für einen öffentlichen oder einen privaten Arbeitgeber tätig sind. Die Tatsache, dass Italien in diesem besonderen Bereich traditionell befristete Arbeitsverträge verwendet, befreit diesen Staat nicht davon, die sich aus der Rahmenvereinbarung ergebenden Pflichten zu beachten. Aus den Akten geht nicht hervor, dass es einen Grund gibt, warum die Ziele der Entwicklung der italienischen Kultur und der Bewahrung des historischen und künstlerischen Erbes Italiens es erfordern würden, dass Arbeitgeber des kulturellen und künstlerischen Sektors Personal befristet einstellen. Aus den Akten geht nicht hervor, dass ein vorübergehender Bedarf des Arbeitgebers die Verlängerung befristeter Verträge rechtfertigt. Vielmehr wurde Frau Sciotto offenbar während mehrerer Jahre eingestellt, um immer ähnliche Aufhaben zu erfüllen, d. h., weil die gewöhnliche Programmplanung dies erforderte (was zu überprüfen Sache der nationalen Gerichte ist). Haushaltserwägungen können das Fehlen jedweder Maßnahme zur Verhinderung eines missbräuchlichen Rückgriffs auf aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge nicht rechtfertigen. Aus den Akten geht nicht hervor, dass die Verlängerung befristeter Arbeitsverträge nötig ist, um Personal bis zum Abschluss von Auswahlverfahren zu vertreten, die organisiert werden, um Arbeitnehmer unbefristet einzustellen.
Was die Ahndung des Missbrauchs befristeter Verträge betrifft, führt der Gerichtshof aus, dass die Rahmenvereinbarung keine allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten aufstellt, die Umwandlung in einen unbefristeten Arbeitsvertrag vorzusehen. Wenn jedoch die nationale Regelung diese Art von Sanktion in einem bestimmten Bereich untersagt (wie hier im Bereich der Stiftungen für Oper und Orchester), muss es in diesem Bereich eine andere wirksame Maßnahme geben, um die missbräuchliche Verwendung aufeinanderfolgender befristeter Arbeitsverträge zu verhindern und gegebenenfalls zu ahnden. Es ist Sache der nationalen Gerichte, zu überprüfen, ob es eine solche Maßnahme in der innerstaatlichen Rechtsordnung gibt5 und ob sie hinreichend effektiv, abschreckend und verhältnismäßig ist, um die Anwendung der Rahmenvereinbarung sicherzustellen.
Der Gerichtshof hebt hervor, dass die nationalen Gerichte, falls sie feststellen sollten, dass es keine andere effektive Maßnahme in der nationalen Regelung gibt, um die Missbräuche gegenüber dem Personal der Stiftungen für Oper und Orchester zu verhindern und zu ahnden, dennoch verpflichtet wären, das innerstaatliche Recht im Rahmen des Möglichen so auszulegen, dass dieser Missbrauch angemessen geahndet wird und die Folgen des Unionsrechtsverstoßes beseitigt werden, zum Beispiel indem sie die von den allgemeinen arbeitsrechtlichen Vorschriften vorgesehene Sanktion anwenden, die darin besteht, einen befristeten Arbeitsvertrag automatisch in einen unbefristeten umzuwandeln, wenn das Arbeitsverhältnis über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus besteht.
Urteil des EuGH vom 25.10.2018, Az.: C 331/17
Quelle: Pressemitteilung Nr. 160/2018 des EuGH vom 19.10.2018
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