Deutsches Mitbestimmungsgesetz ist mit dem Unionsrecht vereinbar
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Nach Ansicht von Generalanwalt Saugmandsgaard Øe ist das deutsche Mitbestimmungsgesetz mit dem Unionsrecht vereinbar. Es verstoße weder gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer noch gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, dass nur die im Inland beschäftigten Arbeitnehmer die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wählen könnten und in den Aufsichtsrat wählbar seien.
Die TUI AG, eine deutsche Aktiengesellschaft, steht an der Spitze des weltweit tätigen Tourismuskonzerns TUI. Der Konzern beschäftigt in Deutschland über 10 000 Personen und in den übrigen Mitgliedstaaten der Union fast 40 000 Personen. Herr Konrad Erzberger, einer der Anteilseigner der TUI AG, wendet sich vor den deutschen Gerichten gegen die Zusammensetzung des Aufsichtsrats dieser Gesellschaft, dessen Mitglieder nach dem deutschen Mitbestimmungsgesetz jeweils zur Hälfte von den Anteilseignern und den Arbeitnehmern bestimmt werden. Herr Erzberger macht geltend, dass der Aufsichtsrat der TUI AG nur aus Mitgliedern bestehen dürfe, die die Anteilseigner bestimmt hätten. Das deutsche Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer verletze nämlich das Unionsrecht; indem es vorsehe, dass nur die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer des Konzerns die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wählen könnten und in den Aufsichtsrat wählbar seien, verstoße es gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. In diesem Zusammenhang hat das Kammergericht Berlin (Deutschland) beschlossen, den Gerichtshof zur Vereinbarkeit des deutschen Mitbestimmungsgesetzes mit dem Unionsrecht zu befragen.
In seinen Schlussanträgen kommt Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe zu dem Ergebnis, dass eine Regelung wie die in Rede stehende weder gegen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer noch gegen das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verstoße. Die Situation, in der sich die außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer der TUI-Gruppe befänden, falle grundsätzlich nicht unter die Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Sie verleihe nämlich nur Arbeitnehmern Rechte, die von dieser Grundfreiheit tatsächlich Gebrauch machten, dies beabsichtigten oder dies bereits getan hätten, indem sie ihren Herkunftsmitgliedstaat zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat verließen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit treffe dies jedoch auf viele der in Rede stehenden Arbeitnehmer nicht zu. Der bloße Umstand, dass die Gesellschaft, bei der der Arbeitnehmer beschäftigt sei, im Eigentum oder unter der Kontrolle einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall Deutschland) stehe, führe nicht dazu, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beeinträchtigt werden könne. Im Übrigen könne das allgemeine Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit nicht auf rein innerstaatliche Sachverhalte eines Mitgliedstaats angewandt werden.
Bei den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern der TUI-Gruppe sei die Arbeitnehmerfreizügigkeit dagegen anwendbar, wenn sie Deutschland verließen oder verlassen wollten, um eine Stelle bei einer zum gleichen Konzern gehörenden Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat anzutreten. Durch die in Rede stehende Regelung werde die Freizügigkeit der Arbeitnehmer jedoch nicht beschränkt, auch wenn der Arbeitnehmer, der Deutschland verlasse, sein aktives und passives Wahlrecht verliere. Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts seien die Mitgliedstaaten nämlich nicht verpflichtet, den Arbeitnehmern, die ihr Hoheitsgebiet verließen, um in einem anderen Mitgliedstaat eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, dieselben Mitwirkungsrechte einzuräumen wie den im Inland beschäftigten Arbeitnehmern.
Für den Fall, dass sich der Gerichtshof diesem Ergebnis nicht anschließen und eine Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer feststellen sollte, sei diese jedenfalls gerechtfertigt. Die Aufrechterhaltung einer Regelung wie der in Rede stehenden sei nämlich Ausdruck bestimmter den Mitgliedstaaten obliegender legitimer wirtschafts- und sozialpolitischer Entscheidungen. Die deutsche Mitbestimmungsregelung könne zwar nicht ohne Weiteres als Bestandteil der nationalen Identität eingeordnet werden, doch bestehe kein Zweifel daran, dass sie ein wesentlicher Bestandteil des deutschen Arbeitsmarkts und – allgemeiner – der deutschen Sozialordnung sei.
Es sei anzuerkennen, dass die außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer nicht in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Regelung einbezogen werden könnten, ohne dass ihre grundlegenden Merkmale geändert werden müssten. Eine solche Erweiterung der deutschen Regelung würde nämlich voraussetzen, dass die Verantwortlichkeit für die Organisation und die Durchführung der Wahlen von den Arbeitnehmern und den Gesellschaften des Konzerns auf die Leitung der deutschen Muttergesellschaft übertragen werden müssten, was den Grundsätzen zuwiderliefe, auf denen die Regelung beruhe.
Schlussanträge des Generalanwalts vom 04.05.2017 in der Rechtssache C-566/15
Quelle: Pressemitteilung Nr. 43/2017 des EuGH vom 04.05.2017
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