Arglistiges Verhalten bei Beantwortung von Gesundheitsfragen
Arglistiges Verhalten bei Beantwortung von Gesundheitsfragen
Arglistig handelt nur derjenige, dem bei der Beantwortung der Fragen nach dem Gesundheitszustand auch bewusst ist, dass die Nichterwähnung der nachgefragten Umstände geeignet ist, die Entschließung des Versicherers über die Annahme des Vertragsangebots zu beeinflussen. Zu beachten sind insofern die konkreten Umstände des zu beurteilenden Einzelfalls, die insbesondere die Art, Schwere und Zweckrichtung der Falschangaben, den Umfang der verschwiegenen Tatsachen, die Dauer der Störungen, die Auswahl der genannten und nicht genannten Befunde sowie die zeitliche Nähe zur Antragstellung berücksichtigen.
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OLG Stuttgart, 04.03.2021, 7 U 324/20
Sachverhalt:
Der Kläger begehrt Leistungen aus einer zugunsten seines am … geborenen Sohns als versicherter Person bei der Beklagten genommenen Kinder-Existenzschutzversicherung. Für den Versicherungsvertrag wurde am 16.08.2016 der Versicherungsschein ausgestellt, als Versicherungsbeginn ist der 13.07.2016, 12 Uhr, festgelegt. Im Antrag vom 12.07.2016 ist die Frage, ob seit der Geburt stationäre Behandlungen stattgefunden hätten, mit „Nein“ beantwortet. Nach Ziff. 5 der Allgemeinen Bedingungen für die Existenzschutzversicherung (AB ESV 2016) erbringt die Beklagte Versicherungsleistungen nach Ziff. 1.2, „wenn die versicherte Person auf Grund eines Unfalles oder wegen einer während der Vertragslaufzeit diagnostizierten Krankheit eine Einstufung der Pflegestufe I, II oder III nach SGB XI erhält (Stand: Juli 2015)“. Unter Ziff. 9 AB ESV 2016 sind Fälle aufgeführt, in denen der Versicherungsschutz ausgeschlossen ist. Das Kind des Klägers war bei Antragstellung 9 Monate alt. Sein Körpergewicht war von Geburt an deutlich unterdurchschnittlich. Es befand sich vom 14. bis zum 17.12.2015 stationär in einem Klinikum, wohin es mit Verdacht auf eine Sepsis stationär eingewiesen worden war. Dieser Verdacht bestätigte sich nicht, sondern es stellte sich ein Virusinfekt (Parovirus B 19 – Erreger der Ringelröteln) heraus. Vom 13. bis zum 17.01.2017 wurde das Kind erneut stationär in dasselbe Klinikum eingewiesen. Später wurde bei ihm eine Mukoviszidose mit Lungen- und Darmmanifestation diagnostiziert. Seit dem 01.08.2017 ist das Kind wegen der Erkrankung an Mukoviszidose laut einem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) vom 19.10.2017 in den Pflegegrad 2 eingestuft. Der Kläger hat am 05.01.2018 die Zahlung von Versicherungsleistungen beantragt. Mit Schreiben vom 21.06.2018 erklärte die Beklagte die Anfechtung des Vertrages, hilfsweise den Rücktritt, dies mit der Begründung, dass der Versicherungsnehmer die vor Antragstellung vorliegende Erkrankung infolge eines Infekts durch einen Parovirus B 19 nicht angezeigt habe. Mit Schreiben vom 17.12.2018 erklärte die Beklagte zusätzlich die Anfechtung, weil die stationäre Krankenhausbehandlung in der Zeit vom 14.12.2015 bis zum 17.12.2015 nicht angezeigt worden sei. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung.
Entscheidungsanalyse:
Der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart hat geurteilt, dass der Kläger Versicherungsleistungen beanspruchen kann. Nach Überzeugung des Senats kann sich die beklagte Versicherung nicht auf eine Anfechtung ihrer Vertragserklärung wegen arglistiger Täuschung i.S. von § 123 Abs. 1 BGB oder auf einen – hilfsweise erklärten – Rücktritt nach § 21 VVG berufen, weil der Kläger verschwiegen habe, dass sein Kind bei Antragstellung bereits an einem Infekt durch Parovirus B 19 erkrankt gewesen sei. Der Senat erläutert, dass dem Kläger dieser Infekt bei einer Vorstellung in einer Kinderarztpraxis im Januar 2016 nicht mitgeteilt worden ist, bei Entlassung seines Kindes aus dem Krankenhaus habe die benannte Infektion nach den vorliegenden Unterlagen noch nicht festgestanden. Damit ergebe sich keine hinreichende Grundlage für eine Kenntnis und mithin für eine vorsätzliche oder gar arglistige Verletzung einer Aufklärungsobliegenheit nach § 19 Abs. 1 VVG. Aus Sicht des OLG scheidet daher eine Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB hier aus, ebenso ein Rücktritt, der sich auf eine vorsätzliche Verletzung einer Aufklärungspflicht nach § 19 Abs. 1 VVG stützt. Auch ein auf eine grob fahrlässige Verletzung einer Anzeigepflicht gestützter Rücktritt komme im konkreten Fall nicht in Betracht. Nach Ansicht des Senats kann sich die Beklagte auch nicht mit Erfolg auf die im Schreiben vom 17.12.2018 erklärte Anfechtung berufen, die sich auf eine nicht angezeigte stationäre Krankenhausbehandlung in der Zeit vom 14.12.2015 bis zum 17.12.2015 stützt. Das OLG begründet dies damit, dass kein arglistigen Verhalten des Klägers im Rahmen der Antragstellung vorliegt, sodass sich die Beklagte nicht auf eine Anfechtung nach § 123 Abs. 1 BGB berufen kann. Arglistig handelt nach Worten des Senats nur derjenige, dem bei der Beantwortung der Fragen nach dem Gesundheitszustand auch bewusst ist, dass die Nichterwähnung der nachgefragten Umstände geeignet ist, die Entschließung des Versicherers über die Annahme des Vertragsangebots zu beeinflussen. Im konkreten Fall habe der Kläger angegeben, die Frage bezüglich der stationären Behandlung verneint zu haben, weil das Kind nicht zur Behandlung, sondern lediglich zur Beobachtung im Krankenhaus gewesen sei. Dies lasse nicht auf eine Arglist schließen. Zu beachten seien insofern die konkreten Umstände des hier zu beurteilenden Einzelfalls, die insbesondere die Art, Schwere und Zweckrichtung der Falschangaben, den Umfang der verschwiegenen Tatsachen, die Dauer der Störungen, die Auswahl der genannten und nicht genannten Befunde sowie die zeitliche Nähe zur Antragstellung berücksichtigen. Das OLG ist daher zu dem Ergebnis gelangt, dass die Berufung des Klägers begründet ist.
Praxishinweis:
Nach der hier vom OLG Stuttgart vertretenen Auffassung erfasst das Tatbestandsmerkmal der Arglist nicht nur ein Handeln, das von betrügerischer Absicht getragen ist, sondern auch solche Verhaltensweisen, die auf bedingten Vorsatz im Sinne eines „Fürmöglichhaltens“ reduziert sind und mit denen ein moralisches Unwerturteil nicht verbunden sein muss. Auf Arglist als innere Tatsache kann nach Worten des OLG regelmäßig nur auf der Grundlage von Indizien geschlossen werden. Voraussetzung für die Annahme einer arglistigen Täuschung ist somit, dass der Versicherungsnehmer mit wissentlich falschen Angaben von Tatsachen bzw. dem Verschweigen anzeige- und offenbarungspflichtiger Umstände auf die Entschließung des Versicherers, seinen Versicherungsantrag anzunehmen, Einfluss nehmen will und sich bewusst ist, dass der Versicherer möglicherweise seinen Antrag nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen annehmen werde, wenn er wahrheitsgemäße Angaben mache.
Wenn Sie Fragen zu den Voraussetzungen eines arglistigen Verhaltens bei Beantwortung von Gesundheitsfragen haben, dann nehmen Sie bitte Kontakt mit mir auf.