Anspruch auf Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung
Anspruch auf Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung
Das Gericht ist berechtigt, seine Überzeugung von der Ausgestaltung des vom Berufsunfähigkeitsversicherer zulässigerweise mit Nichtwissen bestrittenen früheren Berufes im Einzelfall auch auf die persönlichen Angaben des Versicherten zu stützen. Die Fortsetzung der früheren Tätigkeit als Vorarbeiter in Wechselschicht kann sich als für den Versicherungsnehmer unzumutbar erweisen, wenn dieser zuvor bereits einen Herzinfarkt erlitten hatte und sich dadurch das Risiko, dass es zu einer erneuten Erkrankung bzw. zu einem Fortschreiten der Erkrankung kommt, nach sachverständigen Feststellungen „potenziert“.
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OLG Saarbrücken, 05.04.2023, 5 U 43/22
Sachverhalt:
Der im Jahr 1963 geborene Kläger begehrt von der Beklagten Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung. Er ist seit 01.11.2016 versicherte Person und Bezugsberechtigter aus einem „Kollektivversicherungsvertrag“, den sein Arbeitgeber, die S. AG, bei der Beklagten als Rechtsnachfolgerin der G. unterhält. Als versicherte Leistungen im Falle der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit sind die Zahlung einer monatlichen Rente in Höhe von 1.200,- Euro sowie die Befreiung von der Beitragszahlungspflicht vereinbart. Dem Vertrag liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Firmenkundenlebensversicherung, die Besonderen Bedingungen für die Direktversicherung nach § 3 Nr. 63 EStG, die Besonderen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitstarife, die Besonderen Bedingungen für den Tarif BR01 sowie die Tarifbedingungen für den Tarif PR01 zugrunde. Der Kläger war vormals als Vorarbeiter der technischen Laboratorien der S. AG in V. beruflich tätig. Mit Schreiben vom Januar 2019 machte er Ansprüche wegen Berufsunfähigkeit ab 01.08.2018 geltend, die er mit orthopädischen, kardiologischen und psychischen Einschränkungen begründete. Nach Rücksendung eines Fragebogens teilte die Beklagte ihm mit, dass keine Ansprüche anerkannt würden. Daraufhin beauftragte der Kläger seine späteren Prozessbevollmächtigten, die die Beklagte aufforderten, ihre Eintrittspflicht anzuerkennen. Die Beklagte kündigte eine Überprüfung an, weitere Mitteilungen erfolgten nicht. Seit 01.05.2019 hat der Kläger eine andere Tätigkeit bei seinem ehemaligen Arbeitgeber aufgenommen. Die Beklagte hat daraufhin im Rechtsstreit vorsorglich (hilfsweise) die „Leistungseinstellung unter Bezugnahme auf die Aufnahme einer konkreten Verweisungstätigkeit zum 1. Mai 2019“ erklärt. Das LG hat der Klage stattgegeben. Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung.
Entscheidungsanalyse:
Der 5. Zivilsenat des OLG Saarbrücken hat geurteilt, dass die beklagte Versicherungsgesellschaft dem klagenden Versicherungsnehmer eine monatliche Rente in Höhe von 1.200,- Euro sowie die Befreiung von der Pflicht zur Beitragszahlung schuldet. Die Beklagte müsse die nach dem Versicherungsvertrag und den zugrunde liegenden Versicherungsbedingungen geschuldeten Leistungen erbringen. Der Senat weist im Ausgangspunkt darauf hin, dass sich die mit der Klage geltend gemachten Ansprüche nur aus dem Versicherungsvertrag ergeben können. Danach schulde die Beklagte bei bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit Versicherungsleistungen bis längstens zum Vertragsablauf am 01.01.2030 in Gestalt einer monatlichen Rente sowie der Freistellung von der Pflicht zur Beitragszahlung. Nach Überzeugung des OLG steht hier mit der erforderlichen hinreichenden Gewissheit fest, dass der Kläger spätestens seit 08.11.2018 bedingungsgemäß zu mehr als 50 Prozent berufsunfähig gewesen ist, weil er zu diesem Zeitpunkt voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen zu mehr als 50 Prozent außerstande war, seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Vorarbeiter im Schichtdienst bei der S. AG auszuüben, und er damals auch keine andere Tätigkeit ausgeübt hat, auf die er sich von der Beklagten verweisen lassen müsste. Das LG habe zu Recht auf die von ihm zuletzt in gesunden Tagen ausgeübte Tätigkeit als Vorarbeiter bei der Firma S. AG abgestellt, wie sie vor deren Beendigung konkret ausgestaltet gewesen sei. Nach Auffassung des Senats war es hierbei zulässig, die Überzeugung des Gerichts über die Ausgestaltung des Berufes im Einzelfall auch auf die persönlichen Angaben des Versicherten zu stützen. Nach Ansicht des Senats konnte der Kläger seiner vormaligen Tätigkeit als Vorarbeiter in Wechselschicht spätestens seit dem 08.11.2018 gesundheitsbedingt voraussichtlich mindestens sechs Monate ununterbrochen zu mindestens 50 Prozent nicht mehr nachgehen. Aus Sicht des OLG kann nämlich die Fortsetzung der früheren Tätigkeit als Vorarbeiter in Wechselschicht für den Versicherungsnehmer unzumutbar sein, wenn dieser wie hier im Fall zuvor bereits einen Herzinfarkt erlitten hatte und sich dadurch das Risiko, dass es zu einer erneuten Erkrankung bzw. zu einem Fortschreiten der Erkrankung kommt, nach sachverständigen Feststellungen „potenziert“. Die Beklagte habe hier nach Eintritt des Versicherungsfalles ihre Leistungen auch nicht wirksam wieder eingestellt. Es fehle an einer den Anforderungen genügenden nachvollziehbaren Einstellungsmitteilung. Nach Worten des Senats ist nicht erwiesen, dass die vom Kläger seit 01.05.2019 ausgeübte neue Tätigkeit seiner bisherigen Lebensstellung in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht entspricht, weil davon ausgegangen werden muss, dass jedenfalls die soziale Wertschätzung der neuen Tätigkeit unter dem Niveau des bislang ausgeübten Berufes liegt. Nach Auffassung des Senats hat der Kläger daher hier die Voraussetzungen eines Versicherungsfalles im November 2018 bewiesen und kann auch eine spätere wirksame Leistungseinstellung durch die Beklagte nicht festgestellt werden, sodass die Berufung der Beklagten keinen Erfolg hat.
Praxishinweis:
Das OLG Saarbrücken weist in diesem Urteil darauf hin, dass eine Vergleichstätigkeit dann gefunden ist, wenn die neue Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und in ihrer Vergütung sowie in ihrer sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt (BGH, Urteil vom 20.12.2017 – IV ZR 11/16). Nach Ansicht des OLG ist dieser im Nachprüfungsverfahren vom Versicherer zu führende Nachweis der Gleichwertigkeit der Verweisungstätigkeit hinsichtlich ihrer sozialen Wertschätzung jedoch nicht geführt, wenn diese im Gegensatz zur bisherigen Tätigkeit als Vorarbeiter in Wechselschicht nicht mit Führungsaufgaben – z. B. Einweisen von Fachkräften, Überwachung deren Arbeiten, Durchführung der Qualitätskontrolle – verbunden ist, sondern sich auf die reine Erfassung, Prüfung und Weitergabe von Aufträgen beschränkt.
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